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2. August 2012 4 02 /08 /August /2012 06:04

 

Natürlich begeistern mich Abenteuer-Trail-Läufe an Orten, an denen sich die Wölfe gute Nacht sagen und doch finde ich immer wieder gerne zurück zu den Bahn-und Runden-Läufen. Warum? Ganz einfach, weil es die unkomplizierteste Weise ist der Lauflust nachzukommen. Es liegt ständig Verpflegung bereit, an der offiziellen Labstelle und in meiner selektiv befüllten Kühltasche. Da ist kein schwerer Rucksack mitzuschleppen oder gar ein Schlitten nachzuziehen und keine aufwendige Logistik mit Betreuerteam und Begleitfahrzeug nötig. Hierbei geht es ganz einfach um pures Laufen, zwar im Kreis herum (meist auf einem 1 Kilometer Rundkurs) aber dafür ohne Nebensächlichkeiten. Außerdem ist die Herausforderung, im Gegensatz zu Landschaftsläufen - wo durch naturelle Eindrücke die Sinne beschäftigt sind um einiges größer. Und schließlich ist doch die Herausforderung die Würze des Lebens. 

Es ist mir sehr wohl bewußt, dass es sich dem Vorstellungsbereich vieler Menschen entzieht, wie man sich begeistern kann 12 oder 48 oder gar 7 Tage immer die gleiche Strecke, in sehr begrenztem Aktionsradius zu laufen. Noch dazu meist ohne, oder wenn schon dann nur mit einem Minimum an Schlaf. Da kommt es schon vor, dass man auch mit bodenloser Verständnislosigkeit konfrontiert wird. "Ohne Hirn ists leicht marschiern", hat mir letztens einer gleich direkt ins Gesicht gesagt. Ein ahnungsloser Zeitgenosse, der wenn es so wäre wie er sagt, selbst zu Höchstleistungen im Ultralangstreckenlauf fähig wäre. Man sollte über nichts urteilen, dass man nicht schon selbst ausprobiert hat. "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, die die Welt nicht angeschaut haben" (Alexander von Humbold). Der Meinung schließe ich mich an, und lasse mir die Freude darüber, wieder beim 48-Stunden-Lauf in Gols dabei sein zu können nicht verderben.

Eine Veranstaltung wie diese ist keine Showbühne der Eitelkeiten, wie es gelegentlich bei diversen anderen Sportbewerben zu beobachten ist. Gols ist an diesem Wochenende ein Epizentrum mentaler Stärke. Ein Treffpunkt von Weitläufern, von denen die meisten ihre innere Ruhe gefunden haben. Zu diesen zählt sich der Läufer und Buchautor Leo Stierhof, dem Titel seine zweiten Buches nach, auch selbst. Ich habe ihn bei der Ausgabe der Startnummern in Gols kennen gelernt und bei dieser Gelegenheit gleich 3 seiner Bücher gekauft.

    Tagesläufe 1

Über die ersten Stunden nach dem Start gibt es nicht viel zu berichten, außer dass ich in euphorischer Agilität zu schnell und mit Scheuklappen unterwegs bin, also von der Umgebung nicht viel wahrnehme. Später, in den Abendstunden, nachdem der erste Laufhunger gestillt ist, finde ich mich - etwas gedrosselt - zur geistigen Nahrungsaufnahme an Leos Seite.

Leo kann auf 73 erlebnisreiche Lebensjahre zurückblicken und ist somit der älteste Teilnehmer im Feld. Eine viertel Million Lauf-Kilometer hat er den Aufzeichnungen nach, welche er seit dem Beginn seiner sportlichen Laufbahn in der Jugendzeit führt, zurückgelegt. "Laufen ist nicht alles, doch ohne Laufen ist alles nichts...." werde ich später in einem seiner Bücher lesen. Laufen hat ihn aus Lebenskrisen geführt und zu einem ausgeglichenen, spirituellen Menschen geformt, erfahre ich aus seinem Munde. Plötzlich stoppt Leo, um ein am Boden liegendes Cent-Stück zu sich zu nehmen und verkündet mir mit kindlicher Begeisterung, dass die Nacht gut werde, weil eine gefundene Münze eine Glücksmünze sei. Während dessen leuchtet sein Gesicht unbeschwert jugendlich, und in meinem stehen Fragezeichen. Hat er sich dieses Vermögen, die Fähigkeit so zu empfinden, durch das Laufen bewahrt? Muß man das Laufen nicht aufgeben wenn man alt wird, sondern beginnt das Alt werden erst wenn man das Laufen aufgibt? Ich grübele vor mich hin.

Die thermischen Bedingungen an der Laufstrecke wechseln auf wenigen Metern. Während auf der westlichen Hälfte, im Schutze einiger Gebäude die Hitze steht, bläst einem gegenüber, im Osten der kühle Abendwind entgegen. Das erste Opfer dieser Brutstätte für Erkältung und Muskelverspannungen ist der symphatische Deutsche Martin Sattler. Martin war schon gesundheitlich leicht angeschlagen angereist. Das luftige Wechselbad besorgte ihm in wenigen Stunden den Rest. Eine starke beeinträchtigung der Atemwege veranlasst ihn schließlich dazu, nach 76 Kilometern Vernunft walten zu lassen und den Lauf vorzeitig zu beenden. Martin will ja ohnehin im nächsten Jahr wieder kommen und bewiesen hat er ja schon im Vorjahr, was er mit über 60 Lenzen am Rücken zu leisten imstande ist.

Ich selbst bewege mich im grünen Bereich durch die Nacht. Problemlos drehe ich Runde um Runde und genieße es, mich in dem herrlichen Überfluß an Zeit zu verlieren, Zeit die nicht Geld ist. Tauche ein in schwereloses Empfinden, als ob die Uhren nicht mehr tickten und die Ewigkeit begonnen hätte. Nur ein gelegentliches Lächeln meiner Frau, sowie kurze Unterhaltungen mit Laufkollegen holen mich ab und zu in die Gegenwart zurück.

Einer dieser Laufkollegen ist ein alter Bekannter - Franz Schullitsch (Jahrgang 1941). Ihm zolle ich, wegen seines Idealismus und seiner Härte zu sich selbst, welche er trotz seines alters noch aufbringt, höchste Bewunderung. Dem Franz mußte vor einigen Jahren ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt werden, wonach er sich damit abzufinden hatte, sein weiterse Leben mit ungleich langen Beinen zu verbringen. Solch ein Schicksal verleitet die Betroffenen oft dazu, sich gehen zu lassen und ein bewegungsarmes Invalidenleben zu führen. Nicht so den Franz, der blieb aktiv, und wie. Langsam ist er unterwegs, unrund aber unentwegt. Er ist einer von denen, welche sich während eines 48 Stunden-Laufes keine Minute Schlaf gönnen. Plötzlich in der Mittagshitze beginnt der Franz zu wanken. Sein Kreislauf scheint nicht mehr rund zu laufen. Ich sprinte los, will ihn stützen - vor einem Sturz bewahren - doch eine achtsame Betreuerin kommt mir zuvor und verhindert einen Umfaller. Fürsorglich bringt die gute Fee den Franz von der Strecke. Als ich nach der nächsten Runde die besagte Stelle passiere, treffe ich auf den sitzenden noch etwas benommenen Franz. Eine halbe Stunde und eine Flasche Cola später ist er wieder, mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen im Rennen. So, als hätte er dem Zahn der Zeit die Schneid genommen.

Der Franz, der Martin, der Leo, aber natürlich auch der Gerhard Bracht, sie sind die wahren Sieger, sie - die den aussichtslosen Kampf gegen die Vergänglichkeit mit wehenden Fahnen führen. Auch wenn die Intensität ihres Einsatzes nicht immer vernünftig erscheint, ich verneige mich vor ihnen.  

 

"Es wechselt Pein und Lust. Genieße, wenn du kannst, und leide, wenn du mußt."  (Johann Wolfgang von Goethe) 

 

190 Kilometer, dafür benötigte ich - über den Daumen gepeilt - eine viertel Million Schritte. Für Usain Bolt wären dafür, hochgerechnet auf seinen 100 Meter Schnitt, keine 100.000 Steps nötig. Vorausgesetzt, die Knie und Hüftgelenke würden der Belastung solcher "Sprünge" über ultralange Distanzen standhalten. Was aus medizinischer Sicht, ganz abgesehen von anderen Aspekten, nicht möglich ist. Der Schritt eines Ultralangstreckenläufers soll flach und somit auch kürzer, mit einem Wort gelenkschonender als der eines Sprinters sein. Aber was nützt es wenn man davon weiß und sich nicht daran hält. Wenn das Gehirn alle Erfahrungswerte mißachtet und den Körper antreibt, nur weil es nach Hormonen geilt. Ein Fehler der mir schon lange nicht mehr passiert ist, und nun bekomme ich die Rechnung für das hohe Tempo der ersten Stunden dieses Laufs serviert. Langsam schwillt der Schmerz in meinem linken Sprunggelenk an. Erst unscheinbar - einer von vielen Schmerzen, welche im Laufe eines Ultramarathons auflodern und irgendwann wieder verschwinden. Doch dann knallt er mit voller Wucht in mein Bewußtsein, reißt mich aus der gelassenen Monotonie der ich mich ergeben hatte. Ich hinke, werde langsamer, bald komme ich nur noch gehend voran. 

Laufen bis nichts mehr geht, dann gehen bis es wieder läuft - denke ich in mich hinein. Doch bald schmerzt auch das Gehen, dann - noch dazu - das rechte Sprunggelenk. Einige Versuche in ein langsames Lauftempo zu wechseln, enden nach wenigen Schritten in einem Schmerzinferno. Aus und vorbei, nichts geht mehr. Demoralisiert verkrieche ich mich in meinem Zelt, will nur noch schlafen, dem Bewusstsein entfliehen. Aber die Gedanken, dass ich dieses hier nicht zu Ende bringen kann, liegen mir schwer verdaulich im geistigen Magen. Frustriert wälze ich mich hin und her, finde keine Ruhe. Genervt lausche ich den Laufschritten, welche von der Strecke zu meinen Ohren dringen. Zorn explodiert in meinem Gehirn, ich könnte schreien. Dann betrachte ich die Schwellungen meiner gepeinigten Laufwerkzeuge. Schön ist anders. Egal ich muß raus, kann nicht anders. Der Wille siegt über die Vernunft. Mühsam robbe ich aus dem Zelt, umständlich geht es auf die Beine, während der Schmerz beinahe die Funktion meines Schließmuskels aussetzen läßt. Die ersten Schritte kosten mich große Überwindung, aber der innere Antrieb zu laufen überflügelt letztlich Zweifel und Resignationsgedanken. Langsam tapse ich wie auf glühenden Kohlen dahin. Der Schmerz zehrt an meinem Nervenkostüm. Aufgeben würde mich moralisch schwächen, weitermachen wird mich stärken. Wutentbrannt steigere ich das Tempo, werde immer schneller..... Wie besessen treibe ich mich voran, und es ist gut so, denn irgendwann reduziert sich die Pein im Bein auf ein erträgliches Maß und ich falle wieder in meinen gewohnten Trott. Es geht weiter.

Die Zeit scheint gleichermaßen zu rasen und doch nicht vergehen zu wollen. Doch alles ist vergänglich sogar lebenslänglich (als bekennender Romantiker - mit schwarzer Note, spreche ich heiratenden Kollegen so immer Trost zu). Ja, und eine Hochzeit ist es auch die mir die letzten Stunden des Laufes unterhaltsam gestaltet, und somit die Zeit schneller, schmerzvergessener verstreichen läßt. Schon die ganze Nacht war das turbulente Treiben der Hochzeitsgesellschaft im Festsaale des Gasthofs, direkt am Rande der Laufstrecke, durch die Panoramascheibe zu beobachten. Nun, zur morgendlichen Stunde, verlassen die letzten Gäste den Saal. Einer der ausgelassenen Meute gesellt sich übermütig an meine Seite. Mit vom Festgefecht geschwächten, instabilen Knien versucht er mit mir Schritt zu halten. Begeistert verkündet er mir seine Bewunderung für meine Ausdauer und fühlt sich gleich berufen im nächsten Jahr ebenfalls, bei diesem 48 Stunden-Lauf, seine Zäheit unter Beweis zu stellen. Im folgenden Monolog erfahre ich seine umfangreiche Lebensgeschichte, mit Details die selbst in manch langjähriger Partnerschaft unausgesprochen bleiben. Zweifellos ist es sein überdurchschnittliches Mitteilungsbedürfnis, das ihm noch die Kraft verleiht mit mir einige Runden zu drehen. Jedenfalls hat der Bursche noch einiges aus sich herausgeholt, und das in mehrfacher Hinsicht. Zu gerne würde ich erfahren, welches sich für ihn am nächsten Morgen als die größere Plage herausstellt - der Kater in den Muskeln vom Laufen oder der Kater im Kopf vom...... Darüber aber hüllt sich der Schleier des Geheimnisses.

Die letzten Runden schaffe ich nur noch gehend. Die Zeit fließt gemütlich dahin. Endlich ertönt das Schlußsignal. In der Gesamtwertung erreiche ich den vierten Rang, in der nationalen Wertung den zweiten. Was mich in Anbetracht dessen, wie nahe ich am vorzeitigen Ausstieg stand durchaus erfreut. Den Boden für künftige Nostalgien bereitet mir aber ein gar nicht angestrebter, neuer persönlicher Rekord. Nämlich der, mehr als 56 Stunden nicht geschlafen zu haben. Am nächsten Morgen, nachdem dieses Defizit einigermaßen Ausgleich gefunden hat, bin ich Unverbesserlicher schon wieder unterwegs. Natürlich in Laufschuhen, zur aktiven Regeneration. Hinkend, angeschlagen, ramponiert, aber zufrieden. Und mit einem Tempo, bei dem ich acht geben muß, dass mir nicht eine Schnecke von hinten unters Schuhwerk läuft. Ich laufe täglich, einfach aus Freude an der Bewegung. Bin keiner von denen, die einen Wettkampf als Ziel - als Motivations-Viagra, um zum Training hoch zu kommen brauchen.

Dass ich trotzdem gerne an Wettkämpfen teilnehme, liegt nicht nur an den schon beschriebenen Motiven, sondern auch daran, dass es dabei einfacher ist, nachweisbar - auf exakt vermessener Strecke - persönliche Bestleistungen aufzustellen. Denn die persönliche Bestleistung ist für mich ein Wert mit Bedeutung. Top-Platzierungen oder Siege sind schön und gut, aber in Wahrheit sekundär. Selbst wenn man am Ende eines Rennens am Treppchen ganz oben steht, ist es eigentlich nur Zufall. Da es mit Sicherheit irgendwo jemanden gibt, der die erbrachte Leistung überbieten hätte können, wäre er nur dabei gewesen. Selbst Weltrekorde werden egalisiert und vergessen. Was für mich wirklich zählt ist also die persönliche Bestleistung, die kann einem niemand nehmen. 

In diesem Sinne mache ich mich gemeinsam mit meiner Frau Heidi auf den Weg zum 12-Stunden-Lauf nach Langenzersdorf. Der herbstliche Septembermorgen verspricht perfektes Laufwetter. Unmittelbar nach unserer Ankunft, treffen wir einige uns bekannte Ultraläufer mit ihren Betreuern. Man begrüßt uns warmherzig, ein heimeliges Gefühl beschleicht mich und der Zauber der Natur, des Erholungsgebietes "Seeschlacht", gibt seines dazu um mich vollends hier wohl zu fühlen. Die Laufstrecke führt flach um den malerischen See, die Infrastruktur ist gut, es sind Bedingungen die es erlauben Rekorde zu laufen. Zuversichtlich stehe ich am Start mein Ziel zu erreichen, obwohl ich es mir hoch gesteckt habe. 

Doch unbeeinflußbar nimmt das Schicksal seinen Lauf. Die ersten 70 Kilometer verlaufen perfekt nach Plan, in etwa 7 Stunden. 3 Kilometer später beginnt es, ohne irgendwelche Vorzeichen, in meiner Bauchgegend zu brodeln. Gleich darauf wird mir übel. Nastassja, meine Tochter - läuft gerade an meiner Seite, nimmt meinen Getränkegurt in Verwahrung, während ich zur Toilette eile. Mein Kreislauf spielt verrückt, ich muß mich hinsetzen (was ich auf öffentlichen Toiletten normalerweise vermeide) obwohl mir nicht klar ist aus welcher Öffnung........... Es rächt sich nicht nur Montezuma, sondern auch das Manko der beiden letzten schlaflosen Nächte davor (Vollmond). Geschwächt verlasse ich das Örtchen und laufe weiter. Doch die Luft ist draussen, nichts ist mehr wie zuvor. Wenigstens ein Marathon geht noch, denke ich mir. Tatsächlich schaffe ich bis zur erlösenden Schlußfanfare gerade noch 32 Kilometer und das mit großer Mühe. Gesamt sind es 105 Kilometer. Damit bleibe ich weit hinter meiner Bestleistung, bin aber trotzdem nicht unzufrieden. Weil ich standhaft geblieben bin. Weil ich mich dem Bazillus lähmender Verzweiflung nicht ergeben habe. Weil ich weiter gelaufen bin, obwohl es sehr schmerzte. Weil ich es trotz des stundenlangen Bewußtseins mein Ziel, meine persönliche Bestleistung an diesem Tag nicht mehr verbessern zu können zu Ende gebracht habe - bis zur letzten Minute. Und weil ich trotz aller Rückschläge meine Liebe zum Laufen stets behalten habe und die Gedanken - mir so eine Qual nie wieder anzutun - gleich wieder verworfen habe. Denn beim nächsten Mal, ja beim nächsten Mal, da läuft es sicher wieder besser...............

Christian Stolovitz 2012

"Wenn das Leben überhaupt einen Sinn hat, so muß auch Leiden einen Sinn haben"  (Viktor E. Frankl)

 

Facebook: "Christian Stolovitz Fotograf"

 

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5. Januar 2012 4 05 /01 /Januar /2012 16:39

 

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Der lange Weg zum Yukon

 

Eine halbe Ewigkeit trug ich die Bilder schon in Kopf mit mir herum. Genauer gesagt seit dem Jahrzehnt in dem die "Bay City Rollers" noch die Mädchenherzen höher schlagen ließen. Mein Herz beflügelte damals anderes. Bilder von verschneiten Wäldern, Pelztierjägern auf beladenen Hundeschlitten und jagenden Wolfsrudeln. Die Bücher Jack Londons und alte Goldrausch-Westernfilme nährten meine Fantasie. Bubenträume. Schnell ging die Bubenzeit vorrüber, Jahre verrannen, Jahrzehnte verflogen. Vieles verlor sich in der gnadenlosen Mühle der Zeit, verschwand im Bermuda-Dreieck des Gedankespeichers. Nicht jedoch diese verschneiten Bilder meiner Bubenträume. Sie verblassten zwar etwas, wie alte Fotos, blieben aber abrufbar. Und dann viele Jahre später erstrahlten sie in ungeahnt neuer Schärfe. Dann, als ich auf der Suche nach einer extremen, sportlichen Herausforderung auf die Homepage des Yukon Arctic Ultramarathon stieß. Dann wurde mir bewußt, dass ich noch einen Bubentraum zu realisieren hatte. Meine Recherechen begannen................

Der Yukon Arctic Ultramarathon findet alljährlich auf dem Trail namens "Yukon Quest" statt. Dieser Trail führt von Whitehorse (Kanada) nach Fairbanks (Alaska) und hatte schon in den vergangenen Jahrhunderten, vor allem in den Zeiten des Klondike - Goldrauschs große Bedeutung. Als effizientestes Fortbewegungs und Transportmittel gewann das Hundeschlittengespann unter den Goldschürfern und Pelztierjägern bald an Beliebtheit. Das Dasein in dem schneereichen Gebiet am Yukon gestaltete sich hart und entbehrungsreich. Trafen sich die Glücksritter und Abenteurer gelegentlich in einem der Saloons am Trail, so ließen sie es so richtig krachen. Alkohol floß in rauhen Mengen und weckte bei manchem Wetteifer und Kampfgeist. So entstanden laut Überlieferungen die ersten Wettrennen der Musher mit ihren Schlittenhundegespannen. Später im 20. Jahrhundert, der Vorhang der Goldrauschzene am Yukon war schon längst gefallen, entdeckte man den Reiz dieses harten Wettkampfes auf das Neue. Und dann, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, schuf der Outdoorspezialist Robert Pollhammer eine neue Herausforderung - den Yukon Arctic Ultra, im folgenden Bericht nur noch kurz "YAU" genannt. Es sollte der kälteste und härteste Wettkampf unserer Zeit für Läufer, Mountain-Biker und Skilangläufer werden. Jährlich im kältesten Monat ausgetragen, und das am Yukon Quest einer der schönsten und naturbelassensten Gegenden Nordamerikas.

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Das war genau das, wonach ich gesucht hatte. Allerdings sollten von der Idee daran teilzunehmen, bis zur Ausführung einige Jahre vergehen. Erstmals scheiterte mein Plan mitzumachen im Jahr 2010, nachdem  eine Hinterlist des Schicksals die Termine des "Yau" und der olympischen Winterspiele im selben Land zusammentreffen ließ. Wegen des erwartet großen Besucherandranges und den unweigerlich damit verbundenen Reiseverzögerungen befürchtete man Probleme bei der Abwicklung des Yau und känzelte die Veranstaltung für dieses Jahr. Zum Trost entschädigte mich kurze Zeit danach mein hervoragendes Abschneiden bei einem nicht ganz adequaten aber dennoch wetterbedingt schwierigen 100-Meilen-Lauf. Für das darauf folgende Jahr hatte ich schon den Athener 7-Tages-Lauf ins Auge gefaßt. Dieser stellte ebenfalls ein magisches Ziel dar und verlief zudem für mich äußerst erfolgreich. Mein Weg zum Yau aber entwickelte sich immer mehr zur Odyssee. Ungeachtet dessen betrieb ich ein intensives meinem Naturell entsprechend exzentrisches Training. Wobei mein Hauptaugenmerk nicht vorrangig galt Kälte ertragen zu lernen, sonder Schweißreduktion bei körperlicher Anstrengung zu erreichen. Denn bei den zu erwartenden Temperaturen, um -40° Celsius, möglicherweise auch darunter, wird das bloße Atmen zu Herz-Kreislauf-Training. Schweiß gefriert bei solcher Kälte am Körper, egal in welch hochtechnischer Kleidung man steckt. Dieses führt zur Unterkühlung, worauf der Körper seine Funktionen zum Schutz reduziert, um Energie zu sparen. Kein wünschenswerter Zustand, also übte ich das Schwitzen zu verlernen. Wie ich das anging war nichts ganz neues. Mit langen Trainingsläufen in viel zu warmer Kleidung hatte ich mich in vergangenen Jahren ja schon für einige Wüstenläufe vorbereitet. Diesmal aber trieb ich das Ganze, oft zur nächtlichen Stunde im unwegsamsten und finstersten Gelände unseres Waldes, oder in den Bergen mit einem schwer beladenen Bob als Anhängserl. An die Kälte gewöhnte ich mich wie alle Jahre wieder zur Winterzeit bei Gerätetauchgängen im eisigen Wasser unseres heimischen Sees. Als es endlich an der Zeit war nach Kanada abzureisen, fühlte ich mich gut vorbereitet und fit. Im Gegensatz zu vielen Mitmenschen meines Umfeldes, denen Grippe und Erkältung zu schaffen machte. Dass sich auch in meinem Körper Grippesymptome bemerkbar machten, hatte ich erfolgreich verdrängt.

Whitehorse  (-9 Stunden zu MEZ)

Endlich waren mein Teamkollege Christian Scheuerer und ich nach einer Gesamtreisezeit von etwa 40 Stunden in Whitehorse angekommen. Christian und ich trafen in München zusammen um gemeinsam über Amsterdam weiter nach Vancouver und schließlich nach Whitehorse zu gelangen. Unsere Ankunftszeit (1:10 Uhr AM) konnte ungünstiger nicht sein, denn die im Vorfeld reservierte Backbacker-Unterkunft hielt ihre Pforten bis 8:00 Uhr morgens geschlossen. Somit blieb uns weiters nichts übrig als unsere Schlafsäcke auf dem wenig einladenden Boden der Flughafenhalle auszurollen. Der erwies sich aber als königliche Ruhestätte im Vergleich zu einem tiefgefrorenen Plätzchen im Freien. Whitehorse empfing uns mit Hilfsbereitschaft und wohltuender Ruhe. Tugenden mit denen offenbar nur noch kleine Städtchen in der Wildnis aufwarten mochten. Die Uhren schienen hier noch langsamer zu ticken als anderswo. Dieses Gefühl vermittelte mir auch die Optik der beschaulichen Hauptstraße, wo Holz nach wie vor als Baustoff Dominanz behalten hatte.

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Der Yukon-River säumte malerisch den Osten des Stadtzentrums, den Westen begrenzten schneebedeckte Berge. Am Ufer des Flußes, dort wo er südwärts die Stadt verließ, bewunderte ich das Wahrzeichen von Whitehorse. Ein gestrandetes altes Schaufelraddampfschiff aus längst vergangenen legendären Tagen.

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So wohl ich mich auch fühlte, so gut mir Land und Leute auch gefielen, so wenig konnte ich mich mit deren Eßkultur anfreunden. Ob Fisch, ob Fleisch, fast alles wurde in monströsen Burgern verpackt, oder verwürzt und niedermariniert. Als Supplement servierte, man ausnahmslos saftige Rechnungen. Aber wenigstens saßen Christian, Hanspeter, Ignatios und ich bei dieser Gelegenheit wieder an einem Tisch beisammen. Wir hatten uns 5 Jahre zuvor beim "Marathon des Sables" in der Sahara kennengelernt und den Kontakt nie abreißen lassen. Für häufige Treffen wohnten wir zu weit entfernt voneinander. Umso schöner war es nach langem wieder persönlich beisammen zu sein. Ein Veteranentreffen, eines mit gutem Unterhaltungswert. Wir sprachen übers Laufen und tauschten unsere Erfahrungen wie andere Menschen Briefmarken oder Kochrezepte. Von Wüstenläufen, vom Himalaja-Stage-Race, dem Jungle-Marathon, dem 7-Tages-Lauf von Athen und dergleichen. Aber ganz besonders beschäftigte uns was uns hier in der Arktis bevorstand, und das sollte ja noch einiges werden.

Outdoor - Training

Den Nachmittag des 2. Februar verbrachten wir im warmen Lehrsaal des Hotels "High Country Inn". Am Programm stand der theoretische Teil des Outdoor-Trainingskurses. Ein Pflichtermin für alle Teilnehmer des YAU, welche nur wenig oder keine Erfahrung mit arktischer Kälte und lebensbedrohlichen Situationen in der Wildnis nachweisen konnten. Die Vorträge der beiden Damen ließen den Nachmittag invormativ und sachlich verstreichen. Shelley, die Outdoorspezialistin, belehrte uns darüber mit welchen Überraschungen und Gefahren die Natur auf uns wartete. Die andere Dame namens Diane, eine Ärztin, gab sich verantwortlich für den medizinischen Teil des Trainings. Anschließend, die Dunkelheit war schon hereingebrochen, versammelten wir uns vor dem Hotel um den praktischen Teil des Kurses zu absolvieren. In voller Wettkampfadjustierung , inklusive bepackter Pulka, zogen wir in einer Menschenschlange durch Whitehorse, entlang des Yukon River, Richtung Wald. Shelley an der Spitze. Wir sollten unser Tempo im Zaume halten, nicht laufen sondern walken. Denn dies sei kein Wettkampf sondern ein Training, verkündete sie noch vor dem Start. Dann zog sie los.....zu schnell und wurde noch schneller. So als hätte sie feurige Chilli-Schoten zwischen den Hinterbacken. Nach etwa einer halben Stunde war unsere Menschenschlange kilometerweit verstreut. Shelley stoppte an einer Weggabelung, dort warteten wir auf die Nachzügler. Der Letzte war kaum angekommen, schon wetzte unsere Anführerin erneut wie von einer Tarantel gebissen los. Die Vernunft schien ihr fremd, denn zuletzt Geschildertes geschah folgend noch zweimal, bis wir endlich am Ziel anlangten. Mit stolzer Mine, das Schnaufen unterdrückend, schritt sie entlang unserer Front wie ein siegreicher Feldherr. Dabei bemerkte sie offensichtlich gar nicht, dass sie viele Sympathien durch ihre Selbstdarstellung verloren hatte.

page-4.JPGVor uns lag, wie schon erwähnt, unser Ziel. Ein gänzlich zugefrorener, schneebedeckter See, eine Outdoor-Spielwiese. YAU-Boß Robert Pollhammer instruierte was wir zu tun hatten, ehe er die Gruppe ausschwärmen ließ. Ich entdeckte am Ufer die Reste eines abgestorbenen Baumes und belegte sofort einen Platz in unmittelbarer Nähe. Denn die erste Fertigkeit, von der man sein Können unter Beweis stellen mußte, war ein Holzfeuer zu machen. Mit nassem Holz, bei arktischen Temperaturen und permanentem Wind. Noch dazu mit Handschuhe, um Frostschäden an den Fingern zu vermeiden. Das war wahrlich kein Pfadfinderunternehmen. Allerdings, ohne Schnellanzünder und Espitwürfel hätten wir Greenhorns vermutlich eher den Mond mit einer Steinschleuder herunter geholt, als gefrorenes Holz zum Brennen gebracht. Wie dem auch sei, mein Feuer brannte, der Schnee schmolz zu Trinkwasser und ich vor Glück dort zu sein. Alles lief so richtig rund. 

 

Die Berge des Glücks haben oft kleine Gipfel, und manchmal führt der Weg schnell runter in das Tal der Rückschläge. "Du siehst fürchterlich aus", bestätigte mir Kollege Christian mein miserables Befinden am nächsten Morgen. Nun war sie also ausgebrochen, meine Erkältung, Grippe, oder weiß der Kuckuck was ich da schon seit Wochen mit mir herumtrug. Husten, Schnupfen, erhöhte Temperatur - all das was ich einen Tag vor einem 100 Meilen-Lauf noch weniger brauchte als eine geschenkte Musik-CD von Hansi Hinterseer. Der Schlafmangel der letzten Tage hatte mein ansonsten wiederstandsfähiges Immunsystem geschwächt. Reisestrapazen und Jetlag brachten meinen ohnehin gestörten Schlafrythmus zum erliegen. Mit gedämpfter Stimmung, aber zielstrebig, ohne Resignationsgedanken schleppte ich mich durch den Tag. Punkto Medikamente tendierte ich schon viele Jahre in die alternative Richtung. Deshalb vermied ich es, mit Ausnahme von Aspirin-C-Brause, chemische Arznein einzunehmen. Weil ich aber selbst Aspirin sehr selten einsetzte, zeigte die Brause bis zum Abend Wirkung. Mein Zustand hatte sich etwas gebessert.

Christian und ich übersiedelten ins "High Country Inn Hotel", was sehr praktisch war, da Rennleiter Robert Pollhammer alle Beteiligten zum Race-Dinner geladen hatte. Der Abend verlief gemütlich. Ich vermutete, daß es meinen gesundheitlichen Zustand nicht verschlechtern konnte mir Gutes zu gönnen und genoß ausnahmsweise kein alkoholfreies Bier, sondern Bier-freien Alkohol. Bald streckte mich der köstliche chilenische Rotwein in unser riesiges "King-Size-Bed". Welches von mir übrigens ganz alleine beansprucht wurde, da Zimmergenosse Christian es vorzog am Fußboden zu nächtigen, um meinen Viren zu entgehen. Das vermittelte mir das Gefühl unter einer Art Luxus-Quarantäne zu stehen. Doch unter diesen Umständen schlief ich das erste Mal seit unserer Ankunft tief und lange. Die einzige Unterbrechung in der Nacht nützte ich für eine weitere Ausnahmehandlung, dem Einnehmen eines fiebersenkenden, entzündungshemmenden Medikamentes. Alles in allem eine zugegebenermaßen nicht ganz konventionelle Behandlungsmethode, aber sie half.

Endlich am Start

"Unser Körper ist ein Garten und der Wille ist der Gärtner"(William Shakespeare)

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 Der Tag explodierte lautlos in ein Sonnenlicht-Inferno. Es war schon gegen 10:00 Uhr als dies geschah. Whitehorse liegt etwas südlich des Polarkreises, wo die Sonne im Winter täglich nur wenige Stunden (wenn überhaupt) zu sehen ist. Umso beeindruckender, welche Lichtspiele wir miterleben durften. So zogen Christian und ich unsere vollbepackten Pulkas guter Dinge zum Startpunkt, zum Ortsende von Whitehorse, dem Beginn des Yukon-Trails. An zusätzlichem Gewicht schleppte ich etwa 20 Kilogramm mit. Thermoskannen zweckmäßig verteilt, am Getränkegurt und im Rucksack, - Notfallausrüstung, Schlafsack, Bivouak, und eine Menge Nahrungsmittel in der Pulka. Unter den ersten beiden Jacken hatte ich mir einen Kängurugürtel geschnallt. Der warme Platz an der Brust, nahe dem Herzen sollte das Frieren von Energieriegel, Power-Gels, Leberpastete und Brot verhindern. Was sich durchaus bewährte, da mit wenigen Handgriffen ständig Eßbares verfügbar war, ohne das Laufen unterbrechen zu müssen. Wie wichtig permanente Energieversorgung bei solchen Strapazen unter extremer Kälte ist  zeigte sich später. Am Startplatz herrschte geschäftiges Treiben. Etwa 35 Teilnehmer trafen letzte Vorbereitungen unter neugierigen Augen einer überschaubaren Anzahl von Zuschauern. Man schoß noch einige Erinnerungsfotos, wünschte sich gegenseitig Glück und dann war es endlich soweit. 

DSC_0574-1-.jpg "....three,two,one,go...." Die ersten Schritte waren befreiend, wie jedes Mal bei einem Wettkampf nach langer, intensiver Vorbereitung. Alle Zweifel fielen ab, wie Krusten geheilter Wunden. Alles war gut, so wie beinahe immer beim Laufen. Mein Teamkollege und ich, setzten uns wie vor dem Start vereinbart, gemeinsam mit zügigem Tempo an die Spitze des Teilnehmerfeldes. Nicht etwa der Führungs-ambitionen wegen, sondern um nicht im Pulk der Langsameren, im zähflüssigen Kolonnenverkehr gebremst zu werden. Wir wußten nämlich aus dem Race-Briefing, dass der Trail häufig über längere Passagen führte, an denen überholen schwer oder gar nicht möglich war. In unserer Euphorie voran zu kommen, übersahen wir glatt den ersten Overflow, durchbrachen beide die oberste Eisschicht und schon befüllten sich die Schuhe mit Wasser. Nie zuvor hatte ich meine wasserdichten Neoprensocken so geliebt wie in diesem Moment, in dem sie meine Füße warm hielten, so wie es einem Ungeborenen im Mutterleib geschah. Christian war noch mehr im Glück, er konnte gerade noch einen kapitalen Sturz ins eisige Naß vermeiden. Nun waren wir beide umhüllt von einer Wolke "Eau de Adrenalin".

Unbeschadet ging es weiter. Leider nur von kurzer Dauer. Denn plötzlich, nach einem Ruck, zog meine Pulka rechtslastig. Ein Blick nach hinten reichte um zu sehen, dass die linke Halterung am Beckengurt verloren gegangen war. Die Einzelteile im Schnee zu suchen wäre zu zeitaufwendig und vermutlich auch erfolglos gewesen. Also reichte mir Christian Kabelbinder, mit denen mir schnell und unkompliziert eine haltbare Reparatur gelang. Drei Läufer zogen an uns vorbei. Danach waren auch wir wieder im Rennen. Der Großteil der Teilnehmer lag noch immer ein gutes Stück zurück. Und der Abstand vergrößerte sich zusehends, da unser Tempo in Anbetracht der Umstände wie Bodenbeschaffenheit und Zuglast, gleich wieder sehr hoch war. Meiner Meinung nach zu hoch. Ich reihte mich als Schlußlicht der Fünfergruppe.

page 7 Der Trail schlängelte sich auf der Eisdecke des Yukon-River Richtung Norden. Bewaldete, teils steile Uferböschungen säumten den Flußlauf. Den fernen Horizont schmückten majestätische  Bergketten. Ich genoß es mich durch einen Traum zu bewegen, den ich das erste Mal vor 35 Jahren geträumt hatte. Etwa bei Kilometer 10 festigte sich der Entschluß, Vernunft walten zu lassen, nämlich das Tempo zu reduzieren. Zur Überraschung der Dame an meinen Fersen machte ich Platz, um sie an mir vorüberziehen zu lassen. Es war Shelley, genau die Shelley, die Outdoor Shelley. Nun war ich gespannt ob sie tatsächlich über solch ein enormes Leistungspotential verfügte, oder sich nur von der Selbstüberschätzung treiben ließ. Das sollte sich aber später zeigen.

Die Mittagszeit bescherte uns den Temperatur-Tageshöchstwert von -10°C. Dafür trug ich mindestens eine Schicht Kleidung zuviel und begann langsam aber sicher zu schwitzen. Aus der Ferne näherte sich ein vorerst undefinierbares Surren. Erst zaghaft anschwellend, durchschnitt bald ein, wie von mobilen Kettensägen verursachtes, lautstarkes Geräusch die Stille. Nach einiger Zeit brausten unsere Streckenposten, freundlich winkend, auf nach Abgasen stinkenden Schneemobilen vorüber. An der Thaikini-Brücke, der einzigen Brücke, welche ich auf unserem langen Weg zu Gesicht bekam, hatten sich einige Zuseher eingefunden. Kinder, Erwachsene, Menschen beinahe jeder Altersgruppe verband an diesem Tag eine Gemeinsamkeit, und zwar die Begeisterung für unser Tun. Nach dem Passieren dieser netten Gruppe herrschte Stille. Nur das monotone Knirschen meines Laufschrittes im Schnee und das leise Schleifgeräusch der Pulka drangen an mein Gehör. Der Abstand zu den Vorderen war größer geworden, das schien mir in Ordnung. Hinter mir zeigte sich kein Verfolger, ich war nun alleine, auch das war in Ordnung. Beim Alleinsein kommt man der Weltenseele näher, ein gutes Gefühl. Manchmal ging ein Heulen durch die Eisdecke und endete in einem dumpfen Knall. Fremdartige Vögel pfiffen, sangen zwitscherten. 

Dann vernahm ich freudiges Hundegebell. Der Trail schlängelte sich nun um eine dicht bewaldete Landzunge. Dort befand sich, auf einer Anhöhe, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußte, Frank Turners Domizil namens "Muktuk". Frank, eine lebende Legende unter den Mushern kennt die 1000 Meilen des Yukon Quest wie kein anderer. Er startete erstmals 1984 und finishte lückenlos alle Rennen bis zum Jahre 2005, siegreich oder mit Top-Platzierungen. 1995 gelang ihm ein Streckenrekord (10 Tage 16 Stunden und 28 Minuten ), der für seine Konkurrenz 12 Jahre unerreichbar blieb. Aber das Wichtigste dabei war für Frank stets, das Rennen mit gesunden glücklichen Hunden zu beenden. Ein großartiger Mensch, hart zu sich selbst, herzlich den anderen gegenüber. Zwei Tage nach unserem Rennen besuchten Hanspeter, Christian und ich den Hundeschlitten-Meister auf seiner heimeligen Farm, wo er mit 145 Hunden und einigen Helfern lebt. Dort lernten wir einen Frank Turner kennen, der sich neben den Medaillen des Yukon Quest auch noch einige für Bescheidenheit, Warmherzigkeit und Großzügigkeit verdient hätte. 

page-8.JPGWie zuvor erwähnt, wußte ich das alles zu diesem Zeitpunkt, als ich das Hundegebell hörte, noch nicht und war etwas überrascht als wie aus dem Nichts 3 Hundeschlittengespanne auf mich zukamen. Welch ästhetisches Bild, welch langer Hoffnung freudige Erfüllung, dies zu sehen. Obwohl ich den Weg frei machte, stoppte das Führungsgespann vor mir. Die beiden Nachkommenden ebenso dahinter. Da draußen fährt man anscheinend nicht ohne weiteres an einem vorbei, der alleine zu Fuß unterwegs ist. Man ist hilfsbereit. Die kurze Unterhaltung mit dem Leit-Musher tat gut. Der Bewegungsdrang der vierbeinigen Ultra-Läufer faszinierte mich. Der Glanz in ihren Augen, die ungestüme Erwartung wieder loszulaufen. Kein Gramm Fett am Leib - diese tierischen Athleten verkörperten das pure Leben. Ein unvergessliches Treffen.

Einige Zeit danach gelangte ich zum Wegweiser mit der Aufschrift "Check Point YAU". Ich folgte der Abbiegespur zur Uferböschung, welche aufgrund ihrer Steilheit an eine alpine Skipiste erinnerte. Mühsam ging es hinauf. Im Kampf gegen die Schwerkraft, fühlte es sich an, als schleppte ich nicht die Pulka sondern einen Kleinwagen hinter mir her. Bei dieser Plage genehmigte ich mir ausnahmsweise herzhaft zu Fluchen. Oben angelangt, kam es zur Begegnung mit der Führungsgruppe. Die waren bereits wieder auf dem Weg vom Check-Point, zurück zum Trail. Am Check-Point, der Rivendell-Farm, begrüßten mich einige Zuseher und Helfer mit lautem Jubel. Kaum angekommen, nahm man mich in den Mangel, wie bei einem Formel-1 Boxenstop. Man wußte bereits vom Defekt meiner Pulka. Weshalb der sehr umsichtige Robert Pollhammer schon mit einer neuen Halterung bereit stand. Joachim Rintsch, genannt "Fisse" (legendärer Yukon Abenteurer und mehrfacher YAU-Finisher - diesmal Betreuer) machte sich sofort mit flinken Händen an die Reparatur. Ein anderer befüllte inzwischen meine Thermoskannen, ein weiterer Helfer nahm den Verpackungsmüll der Power-Gels entgegen. Nach nur 8 Minuten Aufenthalt ging es, frisch gewartet zum Trail. Die Böschung unfallfrei hinunter gestolpert, danach rechts abgebogen, wo ich auf der ebenen Eisdecke schnell wieder mein Tempo gefunden hatte. 

Die Uhr zeigte 15:20. Der letzte Kontakt zu Menschen lag für einige Stunden hinter mir. Die Entfernung zum Check-Point 2 betrug etwas mehr als 60 Kilometer. Topografisch gesehen war dies der schwierigste Teil der Strecke, beinahe zur Gänze gebirgig. Hier galt es den Großteil, der 3100 Höhenmeter der Gesamtstrecke, zu bewältigen. Zeitmäßig kalkulierte ich für dieses fordernde Stück ungefähr 12 Stunden. Weil ich bedenken hatte, dass für diesen langen Zeitraum der Anstrengung, mein Getränkevorrat (3.5 Liter) nicht ausreichen würde, gab ich, nach jedem Trinkvorgang eine Hand voll Schnee in die Thermoskanne. Und war zuversichtlich, mir damit zeitfressendes Schnee schmelzen zu ersparen. Der Gewöhnung bedurfte es nur, den Sud der Natur mitzutrinken. Nun war es auch klar, warum Medikamente gegen akuten Durchfall als Teil der Pflichtausrüstung vorgeschrieben waren. Mit dem Schnee ist es nämlich leicht möglich dass Bakterien (z.B. von Tierkot) in das Getränk gelangen. Bakterien, welche selbst beim Schnee schmelzen am Feuer nicht abgetötet werden. Da bei solcher Kälte Wasser nur sehr zeitaufwendig, ausreichend keimtötend zum Kochen gebracht werden kann. Die bewegungsarmen Stunden während dessen, kosten dem Läufer viel Energie, da der Körper auskühlt. Und natürlich Zeit, - Wettkampfzeit - Zeit die nicht zu verschenken ist.

page-9.JPGMittlerweile lugte die Sonne nur noch wenig hinter den Bergen hervor. Der Tag alterte, die Temperatur sank. Am Ufer entdeckte ich eine rustikale Goldwäscher-Anlage. Siebe, Rinnen, Auffangbecken, wie von anno dazumals. Aber alles schien irgendwie intakt, benützt. In Whitehorse hatte man uns erzählt, dass aufgrund des aktuell hohen Goldpreises, ein neuer Goldrausch ausgelöst worden war. Und dass von dem edlen Metall noch immer welches gefunden wurde. Das schönste Gold jedoch, hatte ich gerade vor Augen, nämlich das des Sonnenunterganges. Nachdem es eine Weile dem herrlichen Lichtschein der Sonne entgegen gegangen war, bog der Trail weg vom Fluß, Richtung Wald. Leicht bergauf, stark genug um die Last der Pulka zu erschweren. Ins Schwitzen kam ich allerdings trotzdem nicht mehr. Es wurde kälter. Die Schweißränder auf meiner Überhose hatten kunstvolle Eiskristallmuster gebildet. Die unterste Bekleidungsschicht, an der Haut, war bereits getrocknet. Trocken gelaufen, umziehen hielt ich nun nicht mehr für nötig. Das Training in der Vorbereitung, welches ich zum Teil auf Schweißregulation ausgerichtet hatte, schien sinnvoll gewesen zu sein. Steiler, immer steiler ging es in die Berge. Der dunkle Schleier der Nacht breitete sich aus. Beinahe voll strahlte der Mond vom klaren Himmel. Das kam mir von den Lichtverhältnissen entgegen, bedeutete aber auch, dass es kälter als in den vorhergehenden Nächten werden würde. Höchste Zeit mir eine dritte Jacke überzuziehen. Mit klammen Fingern schnallte ich mich aus dem Geschirr, stapfte zurück zur Tasche und öffnete den steifgefrorenen Zipp. Der rieselnd Reif funkelte im Licht der Stirnlampe. Bei den sparsamen Bewegungen wurde ich durch die Kälte schnell träger, unbeweglicher. Da wurde mir bange, so also fühlte es sich an wenn man erfriert. Ich hatte davon gelesen, es soll ein relativ schmerzloser Tot sein. Die polaren Ureinwohner wählten diesen Weg, wenn sie fühlten, dass ihre Zeit gekommen war. Meine war es noch nicht, hoffte ich jedenfalls. Hatte aber Respekt davor wie schnell das gehen konnte. Flott in die Jacke, Reißverschluß zugemacht, Pulka wieder angeschnallt und weiter getrabt. Der Laufschritt war nun schneller als vor dem Stop. Zu einem, um wieder warm zu werden, zum anderen beflügelte mich die Realisierung der unterschätzten Gefahr.

Eindeutig zog sich die Spur des Trails durch den Birkenwald. Nur gelegentlich gab es Abzweigungen, wo eigentlich keine sein hätten sollen. Sie waren bedeutungslos und stammten angeblich meist von Jägern, welche abseits mit dem Hundegespann oder dem Schneemobil auf Erkundung fuhren. Manchmal jedoch gestaltete es sich dann doch nicht so einfach auf Anhieb die richtigen Spur zu erkennen. Um mir Umwege oder Irrgänge zu ersparen, orientierte ich mich an den etwa 50 cm hohen Holzpflöcken, die den Trail markierten. Die waren aber bei abgeschalteter Stirnlampe, trotz des hellen Mondlichtes - im Schatten der Bäume, schwer oder gar nicht ausfindig zu machen. Ich war es gewohnt in der Nacht ohne künstlichen Licht unterwegs zu sein, liebte diese geheimnisvolle Stimmung, die diffuses Licht schafft. Bei eingeschalteter Stirnlampe hingegen ist der Blick nur auf dem Lichtkegel vor dem Kopf fokussiert. Begrenzt, wie bei einem Maultier das ansonsten nichts wahrnimmt als die vorgespannte Karotte. Ein sehr eingeschränktes Vergnügen. Also nahm ich die Stirnlampe zur Hand und leuchtete gelegentlich in die Ferne. Da man die Markierungshölzer mit Reflektoren behaftet hatte, konnte ich jene, aus diesem Leuchtwinkel schon aus größerer Entfernung ausmachen. Ohne den stimmungsraubenden Lichtkegel vor dem Kopf.

Das Mondlicht verlieh der Umgebung ein traumhaftes, surreales Aussehen. Eiskristalle glitzerten in den Bäumen. Wie privilegiert ich mich fühlte, dies machen zu können, dort zu sein. Es war wunderschön, aber auch anstrengend. Doch ist es unter Ultralangstreckenläufern eine verbreitete Eigenart, Schmerzen zu vergessen oder in der Erinnerung als harmlos zu behalten. Ich bin da keine Ausnahme. Schattenspiel von Ästen und Schneegebilden, ließen imaginäre Gestalten erscheinen. Im Halbdunkeln neigt man dazu schwach wahrgenommene Oblekte als Lebewesen zu empfinden, welche bei genauerem Hinsehen verschwinden.  

Dann entdeckte ich verschiedene Spuren. Wolfsspuren erkannte ich, sie ähneln denen von Hunden, sind aber wesentlich größer. Der Wolf ist dem Menschen gegenüber scheu, es erfordert schon einiges Glück einen zu Gesicht zu bekommen. Worauf ich allerdings hoffte. Angst war kein Thema, dabei hätte es Grund genug dafür gegeben. Nicht wegen der "bösen Wölfe", das ist eine Mär. Wölfe werden zu Unrecht in Filmen und Märchen als blutrünstige Bestien gestempelt. Anders ist die Sache bei den Berglöwen, die können dem Menschen tatsächlich gefährlich werden. Und so einer war uns nämlich auf dem Trail gefolgt, bemerkte einer unserer Streckenposten aufgrund frischer Spuren. Davon erfuhr ich aber erst am nächsten Tag. Gut so, manchmal ist es besser wenn man nicht gleich alles weiß.

Meine kleine Fotokamera steckte einsatzbereit in der warmen Brusttasche unter den Jacken. Fotografieren bei arktischen Temperaturen erfordert eine logistische Vorgehensweise. Jedes Foto-shooting mußte geplant sein. Weil durch die Kälte selbst ein voll geladener Kamera-Akku nach wenigen Minuten keine Energie mehr lieferte. Da mußte jeder Handgriff sitzen, und das mit Handschuhen. Denn nur ein kurzer Versuch, eine kurze Tätigkeit ohne Handschuhe zu verrichten, bescherte mir zwei Frostbeulen. Eine davon an page-10.JPGder Fingerkuppe des rechten Zeigefingers, mit dauerhafter Gefühllosigkeit als Folge. Ein Reiseandenken. Ein Souvenier der etwas anderen Art. Also blieben die Handschuhe an den Händen, was das Öffnen und Schließen der Reisverschlüsse so wie das Bedienen der kleinen Kameraknöpfe nicht gerade vereinfachte. Folglich bot sich als einzige Möglichkeit, ein nachtaktives Lebewesen, vor die situationsbedingt nicht so schnell einsatzbereite Kamera zu bekommen, die Linse gegen mich selbst zu richten. Das introspektive Alleinsein nahm Form an.

Wieder ging es bergauf, ein endloser Anstieg, eine endlose Mühe. Die Spur zog sich weiter entlang eines hohen Bergkammes. Paralell zu diesem verlief ein weiterer noch höherer, mit gelegentlich im Mondlicht imposant wirkenden Felsen. Zwischen den Bergen zerschnitt eine tiefe bewaldete Klamm die Landschaft. Welch ein Panorama, mein Herz jauchzte bei dem Anblick. Auch hier glitzerten in den Bäumen unzählige Eiskristalle. Plötzlich entdeckte ich tellergroße Tatzenspuren. Bärenspuren, so weit ich das beurteilen konnte, ziemlich frische. Bären sollten sich aber eigentlich im Winterschlaf befinden, ging es mir durch den Kopf. Außer der ein oder andere erwachte vorzeitig, zum Beispiel wegen eines Warmwettereinbruchs. Und so einen gab es ja in den Tagen davor am Yukon. Was ich diesbezüglich gehört und gelesen hatte, sollen die Frühaufsteher dann so richtig gefährlich sein. Schlaftrunken und mordsmäßig hungrig ziehen sie durch die Gegend, auf der Suche nach Nahrung. In dieser Verfassung sind Bären nicht sehr wählerisch, nehmen praktisch alles Verwertbare zu sich was ihren Weg kreuzt. Bei Gelegenheit auch Läufer. Was hatte ich alles darüber gelesen. Vom Bärenflüsterer zum Beispiel, der jahrelang unter Grizzlys und Braunbären lebte. Gegenseitiges Vertrauen aufbaute, sie studierte, bis er letztlich gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin zerfleischt und gefressen wurde. Von "seinen Bären". Übrigens vor seiner eigenen laufenden Filmkamera, die danach den Beweis lieferte. Bei dieser Vorstellung hoffte ich, dass mein Schutzengel nicht gerade mit einem anderen Klienten beschäftigt war. Andererseits war ich ja nicht ganz unvorbereitet auf ein bäriges Treffen. Pfefferspray und Signalpistole steckten einsatzbereit in der Tasche. Das Schießen sollte sich allerdings nach Möglichkeit auf Fotos beschränken. Aufmerksam scannten meine Sinne die Landschaft, für Müdigkeit blieb keine Zeit. 

Da schimmerte durch die Bäume ein schwacher Lichtschein. Im Näherkommen zeichneten sich die Konturen einer Gestalt in den hellen Hintergrund der Landschaft. Im Schein einer Lampe erkannte ich eine essende Person. Auf meine Frage ob alles in Ordnung sei, kam ein teilnahmsloses "Yes" zurück. Er erweckte weder den Anschein Hilfe zu benötigen noch Kommunikation zu wünschen. Also verlor ich kein weiteres Wort und schleppte meine Last weiter. Wieder einmal bergauf. Etwas danach ließ sich der anschwellende Druck meiner Blase nicht länger ignorieren. Nach einer hektischen Freilegungsaktion, schaffte ich es gerade noch den Strahl außerhalb der Bekleidung laufen zu lassen. In gekrümmter Haltung, die Hände schützend darüber, um nicht an dieser heiklen Stelle ebenfalls Frostbeulen davonzutragen. Nicht auszudenken welch unabsehbare Folgen solche Reiseandenken nach sich ziehen konnten. Bei diesem, aus gutem Grunde lange hinausgezögerten notdürftigen Akt, überraschte mich zu allem Überfluß eine Läuferin. Keine Ahnung woher die so plötzlich kam. Wegen meiner sehr eigentümlichen Haltung, dachte sie vermutlich mich beim Erbrechen angetroffen zu haben und näherte sich offensichtlich zur Hilfeleistung - mehr als es in der Situation angebracht gewesen wäre. Nach eingehender Betrachtung gelang es ihr schnell die Lage zu beurteilen, entschuldigte sich etwas verlegen und trabte weiter. Da trifft man 9 Stunden keine Menschenseele und dann geschieht so etwas, mitten in der Wildnis. Kopfschüttelnd grinste ich meinem geistigen Spiegelbild zu.  

In der zweiten Hälfte der Nacht sank die Temperatur unter die -30°C-Marke. Kopfhaube und Atemschutzmaske froren durch die feuchte Atemluft zu einem Eispanzer. Auf den Wimpern bildeten sich Eisklümpchen. Berührten die oberen Wimpern die unteren, froren sie selbst bei kurzem Zwinkern zusammen. Ließen sich zwar wieder öffnen, was aber ein unangenehmes Gefühl am Auge und eine kurzzeitig verschwommene Sicht verursachte. Versuche die Klümpchen aufzutauen blieben erfolglos. Zum Glück war der Check-Point 2 - Dog Grave Lake, nicht mehr fern. Deshalb beschloß ich, erst dort meine Schutzbrille aus der Tasche zu kramen. Aber zuerst mußte gegessen werden. Das hatte ich in den vergangenen Stunden vernachlässigt. Meine Brennstoffzufuhr bestand aus Power-Gels, Energieriegel, Brot, Leberpastete und dem Getränk beigemengten Maltodextrin. Nun sehnte ich mich nach bodenständigerem zwischen den Zähnen. Die Phantasie servierte den Gedanken allerlei Köstlichkeiten, sodaß mir das Wasser im Munde zusammenlief. Hunger...., nur noch ein Stück bis Dog Grave Lake (welch einladenter Name). Noch eine Kurve, und dann......nichts. Nichts außer Bäume. Weiter. Wieder eine lange Steigung, dann endlich Licht. Freude, das mußte er sein, der Check-Point. Doch als ich näher kam, erkannte ich, dass es sich um das Licht einer Stirnlampe handelte. Und zwar das von der hilfsbereiten Läuferin. Die pausierte gerade neben dem Trail. Ein kurzer Gruß und weiter ging es durch die Nacht. Wieder und wieder dachte ich angekommen zu sein. Sah Zelte, die mein getäuschtes Auge erst beim Näherkommen als Baumformation oder Schneegebilde enttarnte, den Geist des Wunschdenkens überführte. Unendlich lang gefühlte Zeit später stieg mir etwas vertrautes in die Nase, Rauch....der Duft der Zivilisation.

Check-Point 2 - Dog Grave Lake

Diesmal war alles real, kein Wunschdenken, keine Sinnestäuschung. Zuerst der Geruch von Holzfeuer, dann ein zarter Lichtschein in dem sich die Konturen eines Zeltes abhoben. Endlich angekommen. Einige Meter vor dem Zelt parkte ich meine Pulka und kramte aus der knusprig durchgefrorenen Tasche ein Trekking-Menü. Im Zelt begrüßte mich ein Betreuer und mein Teamkollege Christian, der sich sitzend beim Holzofen wärmte. Mittlerweile war es 3:00 Uhr morgens. Der Betreuer goß heißes Wasser in den Alu-Beutel meines Trekking-Menüs, ich stülpte die Öffnung herunter und ließ es einige Minuten garen. Inzwischen taute ich auf. Das starre unbewegliche wich aus meinen Gelenken. Die Augen füllten sich mit Wasser der schmelzenden Eisklümpchen an den Wimpern. Während des Löffenls meiner Pasta mit Pilzen schilderte mir Christian, das Shelley vollkommen entkräftet angekommen war. Übelkeit und Schwäche trieben sie in den Schlafsack, wo sie noch immer lag. Nun ja, Langstreckenlauf ist auch eine Übung von Disziplin und Zurückhaltung. Eine Prüfung welche nicht alle unter uns bestanden hatten. Ich bewältigte die große Herausforderung zu Beginn des Rennens - langsam zu laufen, die Anderen ziehen zu lassen. Die größere Überwindung stand mir allerdings unmittelbar bevor. Nämlich das warme Zelt zu verlassen. Satt gegessen und aufgetaut beschlich den Körper Müdigkeit. Gedanken in den Schlafsack zu kriechen lockten. Seit meinem Betreten des Zeltes waren 40 Minuten vergangen. Zeit genug dass die Beine bleiern wurden.

Rationell gesehen gab es keinen Grund mehr zu verbleiben. Im Gegenteil, mit jeder Minute wurde es schwieriger Motivation zu finden um weiter zu machen. Daher mußte gehandelt werden. Schnell die Thermoskannen befüllt, zusammengepackt und hinaus in die Kälte getrabt. Kurz und schmerzvoll. Während des Anschnallens der Pulka, fuhr mir der Frost bis ins Innerste, nicht nur körperlich. Ein Martyrium. Allerdings macht das Überwinden solcher Krisen tatsächlich einen wesentlichen Teil eines reizvollen Abenteuers für mich aus. Christian und ich beschlossen die letzte Etappe gemeinsam zu laufen. Leider gestaltete sich auch hier der Trail meist zu schmal um nebeneinander zu agieren. Also war Gänsemarsch angesagt, wobei Christian vorerst die Führungsarbeit leistete. Verbale Kommunikation ("ratschn" - wie es mein Gefährte auf guat bayrisch bezeichnete) blieb uns in dieser Formation versagt. Zu laut schliffen die Pulkas auf dem eisigen Untergrund. Die Beschaffenheit des Schnees hatte sich mit fallender Temperatur verändert. Das machte sich nicht nur durch das Geräusch der Pulkas bemerkbar, sondern auch durch deren Gängigkeit. Glitten die Kunststoffwannen vor Stunden (bzw. vor -20°C) noch leicht dahin, scheuerten sie nun wie auf grober Schleiffläche hinter uns her. So fühlte sich also die Arbeit eines Schlittenhundes unter Extrembedingungen an.  

Schonungslos trieben wir uns weiter, wechselten gelegentlich die Führung, kamen gut voran. Ein Auge stets hoffnungsvoll zum Himmel gerichtet, um gegebenenfalls nicht die Polarlichter zu verpassen. Aurora borealis, so bezeichnet man die Nordlichter in der Wissenschaft. Solche Leuchterscheinungen sind nach Eruptionen auf der Sonne zu beobachten. Wobei elektrisch geladene Partikel zur Erdatmosphäre geschleudert werden. Da das Magnetfeld unserer Erde die Sonnensturmteilchen zu den Polen leitet, sind die Lichtspiele nach dem Eindringen in die äußerste Schicht der Erdatmosphäre im Polbereich am besten sichtbar. Nach den Sonnenaktivitäten der vergangenen Wochen sollte der Zeitpunkt für Polarlichter mehr als günstig sein. Einzig störend - das helle Licht des beinahe vollen Mondes. Jeder Vorteil hat eben auch seinen Nachteil. 

page-11.JPGLangsam neigte sich die Nacht dem Ende zu. Da bildete sich ein zarter grüner Schleier am Firmament. Pulsierend wuchs dieser heran, schrumpfte zu einem Streifen, um nach kurzem wieder großflächig zu erscheinen. Hellere grüne Lichtkegel wanderten in unheimlicher Weise über den Himmel. So als würde jemand aus dem All, die Erde mit einem riesigen Schein-werfer suchend ableuchten. Das Natur-schauspiel präsentierte sich nun ständig verändernd. Welch ein Glück, ich jauchzte und Christian ließ seiner Freude ebenfalls freien Lauf. Unsere Begeisterung ließ sich nur mit jener kindlichen unter dem Christbaum messen. Einige Male stoppten wir, um mit offenen Mündern nach oben zu blicken.

Bei solch einem Stop schloß eine kanadische Läuferin zu uns auf. Eilig reichte sie mir meinen linken Überhandschuh, welcher in der Nordlicht-Euphorie unbemerkt verloren gegangen war, und verschwand bei der nächsten Biegung aus unserem Blickfeld. Beim Überstreifen des Handschuhs bemerkte ich, dass der nicht ausreichend geschützte linke Handrücken anschwoll. Der Schmerz ließ nicht lange auf sich warten, blieb aber erträglich. Hinderlich wurde die Frostschwellung erst beim Öffnen der Thermoskannen. Die Verschlüsse der Kannen vereisten binnen kürzester Zeit. Sie zu lockern wurde bei jedem Trinkvorgang zum peinsamen Kraftakt. Blieb mir aber nicht erspart um nicht zu dehydrieren. Viel zu trinken ist bei trockener Kälte besonders wichtig um die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Eine permanente, notwendige Mühe, genau so wie das zuführen von Kalorien. Da der Großteil der Energie für die Erhaltung der Körpertemperatur benötigt wird, ist der Kalorienverbrauch bei tiefen Temperaturen natürlich dementsprechend höher. Um Energie zu sparen bemühte ich mich meist durch die Nase zu atmen. So wurde beim Einatmen die Luft durch die Nase erwärmt, Rachen und Lunge geschont. Und beim Ausatmen durch die Nase verlor ich weniger Körperwärme und auch Körperflüssigkeit. Außerdem ist die Nasenatmung tiefer, langsamer und somit effektiver, weil Puls und Blutdruck niederer bleiben. Im Ruhezustand ist diese Form des Gasaustausches einfach, ja eigentlich selbstverständlich. Doch bei sportlicher Betätigung vergingen in der Vorbereitung zum YAU mehrere Wochen ehe diese Art der Atmung zur Gewohnheit wurde.

Langsam zogen wir durch die mehrstündig andauernde Morgendämmerung. Der Trail gewann etwas an Breite, sodaß nun ausreichend Platz zur Verfügung stand, uns nebeneinander voran zu bewegen. Allerdings hatten wir nach dem hinter uns liegenden 20 stündigen Kraftakt wenig Sinn für große Dialoge und schlurften wortkarg dahin. Irgendwann in diesem öden Trott, fuhr uns ein Motorschlitten entgegen. Bei uns angekommen stoppte die Maschine. Der Fahrer gab sich als Streckenposten zu erkennen. Er erkundigte sich nach unserem Befinden und wir wie weit es noch nach Braeburn sei. Einer von uns hatte die Nachricht erhalten die er gerne hören wollte, Christian und ich waren es nicht. Mit den besten Wünschen, freundlich grüßend verließ uns der Bursche. Wir blickten ihm mit langen Gesichtern hinterher. Es war noch ein gutes Stück weiter als wir dachten. Trostlosigkeit überkam uns. Da half es auch nichts sich vor Augen zu halten, dass die Berge nun entgültig hinter uns lagen, die verbleibende Strecke laut Landkarte relativ flach verlaufen sollte und das Bier im Ziel sowieso geduldig wartete. Nach einiger Zeit versuchte Christian mich zu ermuntern, alleine schneller weiter zu ziehen um Zeit zu gewinnen.

Das kam für mich gar nicht in Frage, mein Bestreben war es, als Team gemeinsam über die Ziellinie zu gehen (was aber in den Regeln nicht zwingend verlangt wurde - die Gesamtzeiten beider Teammitglieder wurden addiert und als Ganzes für den Teambewerb gewertet). Kameradschaftsgeist war und ist in meiner Persönlichkeitsstruktur tief verankert, obwohl ich in vielen Belangen gerne Einzelgänger bin. Doch mein Partner gab nicht auf. Beinahe hatte es den Anschein als wollte er mich los werden. Ich aber wußte, dass es nicht so war. Ihm lag tatsächlich etwas daran, meine persönlichen Interessen in den Vordergrund zu stellen, nämlich eine bessere Gesamtzeit zu erreichen.

page-12.JPG Jedoch war auch bei mir der Sinnesrausch der Nacht vorüber und wie nach jedem Rausch Ernüchterung eingekehrt. Kälte, Müdigkeit und der Wunsch anzukommen beherrschten mich. Dann, nach einer Aussprache beschlossen wir, die letzten Kilometer doch getrennt hinter uns zu bringen. Christian wollte eine kurze Pause einlegen, um in Ruhe zu essen und ich sollte, seinem Wunsch nach, alleine weiter laufen. So geschah es, wahrscheinlich mußte es so sein. Nach einem bedenklichen Abschied zockelte ich wieder alleine dahin. Gelegentlich durchbrachen kraftlose Sonnenstrahlen das Gewölk. Der Trail erstreckte sich vor mir als endlose Gerade. Als breite Schneise mit kilometerweitem abwechslungslosen Blickfeld. Monotonie.

Mein Zeitgefühl schwand, Stunden vergingen ereignislos. Plötzlich entdeckte ich, ein gutes Stück vor mir, Menschen. Bewegungslos am Rande des Trails stehend, erweckten sie zwischen den Bäumen den Anschein irgendetwas zu erwarten. Zuseher? Freude überkam mich, wenn schon Zuseher da standen mußte Braeburn nahe sein. Langsam trabte ich ihnen entgegen,.....da waren sie mit einem Mal verschwunden. Keine Spuren, keine Stimmen - nichts. Der Vorfall verwirrte mich. Etwas weiter erblickte ich eine Blockhütte, daneben stand aufgeschlichtetes Brennholz. In der Entfernung klar und deutlich zu erkennen. Im Näherkommen verschwand auch dieses. Als ich die Stelle passierte, sah ich ausschließlich wirres Geäst, nichts erinnerte an eine Hütte. Mit meinem Verstand geschah seltsames.

Halluzinationen, wie sonst sollte ich mir meine "Beobachtungen" erklären. Vermutlich durch Schlafentzug in Verbindung mit der Kälte, verwunderlicherweise bei relativ klarem Denkvermögen. Zum Glück konsumierte ich keine Schmerzmittel oder dergleichen. Ansonsten hätte ich wohl niemals die interessante Erfahrung gemacht, dass ohne Zufuhr irgendwelcher Substanzen derartige Sinnestäuschungen so real entstehen können. Faszinierend, mein Forschungsdrang war geweckt. Spielerisch versuchte ich zu beobachten in welcher Entfernung die Trugbilder verschwanden und ob sie mit zunehmender Müdigkeit an Intensität zunahmen. Diese Scheinbilder dürften dem Wunschdenken entsprungen sein. Allesamt hatten sie etwas mit Zivilistion, Ziel und Ankunft zu tun. Menschen, Holzhäuser, Autos. Am häufigsten gaukelte mein Geist mir das Finisher-Transparent vor, und das geschah bis zum tatsächlichen Ziel noch öfters als mir lieb war. Später, nach dem Rennen erfuhr ich, dass es anderen - welche auch schlaflos durchgelaufen waren ähnlich erging.

Einzig die Erscheinung eines seltsamen Vogels wird mir vermutlich Zeit meines Lebens ein Rätsel bleiben. Vor allem deshalb, weil es sich nicht mehr klären läßt, ob es sich um ein reales Geschöpf oder ein Trugbild handelte. Dazu muß ich vorausschickend gestehen, mich bis zu diesem Zeitpunkt mit der Vogelwelt Kanadas so wenig beschäftigt zu haben, wie es Politiker mit Begriffen wie Uneigennützigkeit und Nächstenliebe tun. Ich betrachtete den Haushuhn-großen, makellos weißen Vogel zunächst als Schneehuhn. Er hockte auf einem dürren Ast eines sterbenden Baumes, etwa einen Meter über dem Boden. Sein Gefieder wirkte weich und ein strahlendes Rot um Schnabel und Augen verlieh ihm ein extravagantes Aussehen. Nachdem er nach mehrmaligen Augenzwinkern (meinerseits) und meinem Passieren seines Sitzplatzes noch immer dasaß, hatte er den mir selbst auferlegten Trugbild-Test bestanden. Ja, selbst als ich mich danach nochmals umdrehte hockte das Federvieh unverändert regungslos auf seinem Ast. Da prägte ich mir sein Aussehen genau ein. Auf die Idee das Tier zu fotografieren kam ich nicht, wofür ich mich noch heute liebend gerne in den Hintern beißen würde, wäre ich dafür nicht zu ungelenkig. Jedenfalls handelte es sich späteren Recherchen nach weder um ein Schneehuhn, noch um sonst irgend eine bestimmbare Art. Hätte ich ein Foto geschossen, wäre es nachvollziehbar ob ich mich als Entdecker eines noch unbekannten Federviehs rühmen dürfte, oder nur einen tieferen Blick in die Abteilung des Wahnsinns gemacht hatte. Schwamm drüber. 

Schleppend kam ich voran, die Kälte bremste meine Laufgeschwindigkeit auf die eines flotten Gehers. Motorenlärm zeriß die Stille. 3 Schneemobile näherten sich mir aus der Richtung aus der ich kam. Auf meiner Höhe bremste einer, beäugte mich von oben bis unten und streckte seinen Daumen hoch. Nachdem ich das OK-Zeichen erwiderte, brauste er winkend den beiden anderen hinterher. Lärm, Abgasgestank - die waren diesmal echt. Ihre Spuren wiesen mir den Weg. Weg von der öden Schneise, nach einer scharfen Kurve den Hang hinunter zum Braeburn-Lake. Alles wandelte sich wieder zum Guten. Ein herrliches Panorama offenbarte sich meinen Augen. Die Sonne bestrahlte das gegenüberliegende Ufer. Den Horizont begrenzten Berge, dazwischen eingebettet erspähte ich Braeburn. Freudig überquerte ich den See, trabte von einem Markierungspfahl zum nächsten, stoppte um zu fotografieren, bemühte mich das letzte Stück bewußt zu genießen - die wundervollen Landschaftsbilder geistig einzusaugen.

page-13.JPG       Die finale Uferböschung hinauf und rein in die Zielgerade. Wobei von einer Geraden überhaupt keine Rede sein konnte. Hügelig, kupiert, mit achterbahnartigen Schikanen ging es weiter. Am Ende eines Baumflurs offenbarte sich meinen Augen der lange ersehnte Ortsbeginn Braeburns. Eine Hand voll Menschen jubelten mir aufmunternd zu. Als ich die Stimmen vernahm, wußte ich, dass es keine Täuschung war. Zufrieden grinste ich mir das Eis aus dem Gesicht. Rennleiter Robert Pollhammer kam mir entgegen und lotste mich zum Finisher-Transparent.

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 Mit klammen Fingern schnallte ich mich ein letztes Mal aus der Pulka. Dann ging es in die heimelige Gaststube des urigen Trail-Lokals, welches auch als Check-Point für den Yukon Quest diente. Ein verwegen wirkender Rauschebart servierte mir einen Riesenhamburger, der garantiert jedem Ernährungsberater den Schrecken ins Gesicht getrieben hätte. Während ich die Kalorienbombe skrupellos verschlang, fügte Robert meinen Namen der handgeschriebenen Ergebnisliste an der Wand hinzu. Zeit:  29 Stunden 38 Minuten, Rang 5, stand hinter meinem Namen zu lesen.

Auch Christian schaffte es ins Ziel, noch ehe 30 Stunden seit unserem Start vergangen waren. Der Sieg im Teambewerb war unser. Was aber zählt schon ein Sieg über andere. Der einzig wahre Sieg ist der über sich selbst. Es trotz aller Krisen geschafft zu haben - wieder ein Stück über sich selbst hinausgewachsen zu sein. Und wir waren uns einig, dass es Sinn machte, es in Zukunft wieder zu tun. Uns aus der Komfortzone zu begeben, um das Leben in seiner ureigensten Form zu spüren - in der Bewegung, abseits urbaner Betonwüsten. Immer auf der Suche was sich hinter der nächsten Ecke verbirgt. 

 

Christian Stolovitz 2012

 

Facebook: "Christian Stolovitz Fotograf"

 

 

 

  

 

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20. Oktober 2011 4 20 /10 /Oktober /2011 10:33

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Das Nordkap, ein über 300 Meter hoher Schieferfelsen liegt in der nördlichsten Ecke des europäischen Festlandes. (N 71° 10´21´´) 

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  Während in Mitteleuropa das Quecksilber die  plus 30° Celsius Marke erklomm, stieg die Temperatur am Nordkap kaum über den Gefrierpunkt. Der ungewöhnlich große Temperaturunterschied und der eisige Polarwind bildeten gute Bedingungen meine Bekleidung für den kommenden Arktis Ultra-Marathon zu testen.

 

 

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Beeindruckende Weite, nördlich der Baumgrenze. Ausgehend vom Lappland erstreckt sich die Tundra, tausende Kilometer über den Norden Europas und dem asiatischen Kontinent.  

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Weiter ging es nach Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt (N 70°30') welche nur noch 2100 Kilometer vom Nordpol entfernt liegt.  

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Auf der MS Nordkapp, einem Hurtigruten-Postschiff, fuhren wir quasi im Kielwasser der Polarforscher Nansen und Amundsen nach Tromsö.

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Tromsö ist aber auch heute noch Ausgangspunkt zahlreicher Arktisexpeditionen.

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Mitternachtssonne - treffender gesagt mitternächtliche Helle, denn die Sonne fand erst gegen 2:00 Uhr morgens einen Weg durch die Wolkendecke. Es war auch nach einigen Tagen noch ein fremdes Gefühl um Mitternacht bei Tageslicht durch die Gegend zu marschieren. 

 

 

 

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Je weiter wir uns Richtung Süden, dem Polarkreis entgegen bewegten, desto mehr wandelte sich die Helligkeit der späten Nacht zu einem fragilen Dämmerlicht,............

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.....welches der Umgebung eine surreale, märchenhafte Stimmung verlieh. 

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Wahrnehmungsüberdosis - keine Wolke hing schief, kein Regen, es war einfach nur schön. Es festigte sich ein bleibendes Bild, eines jener, welche man in Gedanken archiviert, um es bei Bedarf hervorzukramen um neue Lebenskraft zu schöpfen.

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Der Polarkreis liegt auf 66°33´ nördlicher Breite. Unsere Entfernung zum Nordpol betrug an diesem Tag 2602 Kilometer. Eine Distanz die sich jährlich um einige Meter verringert, was man frei aus dem wissenschaftlichen Fachchinesisch als verlagern des Polarkreises übersetzen kann. 

Der Polarkreis stellt zur Sommersonnenwende die Grenze für die Mitternachtssonne dar, und zur Wintersonnenwende die der Polarnacht. An diesem einen Tag, dem der Sommersonnenwende, geht am Polarkreis die Sonne nicht unter und mit zunehmender Breite mehren sich die Tage an denen die Mitternachtssonne zu beobachten ist. Am Tag der Wintersonnenwende hingegen bleibt unser Zentralgestirn, am Polarkreis - für diesen einen Tag - gänzlich hinter dem Horizont, was mit zunehmenden Breitengraden ebenfalls zunimmt. 

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Nach den bildschönen Inseln der Lofoten, eine der eindrucksvollsten Landschaften die ich jemals zu Gesicht bekommen habe, ging es immer weiter Richtung Süden. Beschauliche Felspanoramen, hohe imposante Wasserfälle, bezaubernde Fjorde - ein Augenschmaus jagde den nächsten und das Zwielicht verlieh der Landschaft einen ätherischen Hauch.

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Wir erreichen die historische Königsstadt Trondheim. Die ehemalige norwegische Hauptstadt hat ihren eigenen Charm. Holzhäuser saümen malerisch die Kanäle, geschichtsträchtige Gebäude prägen die Altstadt. Wir schlendern bei frühlingshaftem Wetter zum mittelalterlichen Nidaros-Dom, der zurecht als schönste Kirche Norwegens bezeichnet wird. 

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Gerne wäre ich im schmucken Trondheim noch länger geblieben, doch unser Zeitplan erlaubte das nicht. Wir mußten weiter Richtung Süden. Nach Bergen, zum Endpunkt unserer Reise. Bergen zählt zu den regenreichsten Städten Europas, ist für meinen Geschmack zu groß und zu modern. Hier habe ich auf Anhieb nichts gefunden, dass mich auf Dauer halten könnte. Im Gegensatz zum restlichen dünn besiedelten Norwegen, welches ich auf unserer 2000 Kilometer langen Reise kennengelernt habe. Denn das Festland Norwegens (abgesehen des Anteiles auf Antarctica) ist etwa 5 mal so groß wie Österreich. Mit nur 5 Mio Einwohnern bedeutet dies 13 EW pro Km2. Wenig im Vergleich zu Österreich, wo auf einen Km2 - 100 EW kommen. 

Abgesehen von den wenigen großen Städten dieses schönen Nordlandes, dominiert hier die Natur mit wenigen, dafür bodenständigen Menschen. Optimale Lebensbedingungen für einen wie mich. Nur bekommt man nördlich des 60. Breitengrades die Sonne leider nicht so häufig zu Gesicht, was für einen diesbezüglich verwöhnten Pannonier schon ein bedeutendes Wohlfühlkriterium ausmacht. Ansonsten hätten wir den Gedanken, uns in diesem, noch größten Teils natürlichen Land dauerhaft anzusiedeln gerne weiter geflochten..........................

 

Christian Stolovitz 2011

 

 

"Wenn das Leben, wie die Dichter es sagen, ein Traum ist, so sind es auf Reise gewiß die Visionen, welche am besten dazu taugen, die lange Nacht zu vertreiben." 

(Charles Darwin  1809 - 1882)

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29. März 2011 2 29 /03 /März /2011 11:45
ATHEN 7 DAYS ULTRAMARATHON

Feste gehören gefeiert wie sie fallen. Ja richtig, ich war auf dem Weg zu einem Fest. Einem 7 tägigen Lauffest unter meinesgleichen, unter Läufer aus Leidenschaft, nicht unter Selbstdarsteller und Stoppuhrbeweihräucherer. Natürlich finden sich auch auf der Weide der Ultralangstreckler schwarze Schafe, aber weit weniger als bei kürzeren Laufveranstaltungen. Zu gering ist der zu erntende Ruhm, verschwindend die mediale Aufmerksamkeit, und Geld verdienen kann man damit so gut wie gar nicht. Man muss schon akut vom Laufvirus befallen sein, um sich einen Gewaltakt in solcher Dimension anzutun. Nun, das war ich schon längst und es gefällt mir auch bei einem Wettkampf in erster Linie miteinander und nicht bedingungslos gegeneinander zu laufen. Das macht einen Ultralangstreckenlauf, wie diesen, zu einem Fest unter Seelenverwandten und darauf freute ich mich.

 

Freund Joe fuhr mich zum Flughafen. Unser Gespräch während der Fahrt  und anschließend im Cafe-Sacher war geprägt von großem Unterhaltungswert. Noch im Airbus schmunzelte ich darüber, als ich gedankenverloren durch das verregnete Bullauge blickte. "Regen war immer ein gutes Omen zu Beginn einer Reise", erklärte mir meine Frau Heidi noch am Morgen. Sie hatte recht, nur leider war sie diesmal nicht an meiner Seite. Diesmal war ich alleine unterwegs, alleine aus dem Alltagsgefängnis ausgebrochen, wie ungewohnt. Plötzlich riß mich ein kühler feuchter Guß der meinen Genitalbereich überraschend benäßte aus den Gedanken. Peinlich berührt versuchte mein griechischer Sitznachbar sein Mißgeschick wieder gut zu machen. Welch ein Glück dass der Trinkbecher nur mit Wasser befüllt war. Trotzdem saß ich für den Rest des Fluges wie gefesselt, den neugierige Blicke wollte ich auf den nassen Fleck in meiner Körpermitte nicht unbedingt ziehen. Ansonsten verlief der Flug aber recht angenehm. Vor allem in den Schreipausen des Kleinkindes, welches man einige Reihen hinter mir vermutlich folterte. Zumindest hörte es sich so an. Athen empfing mich eindrucksvoll in eine Smog-Wolke gehüllt, wodurch sich gelegentlich Sonnenstrahlen schlichen.  Problemlos fand ich ohne Umwege den öffentlichen Bus zum Olympiagelände und für die erste Nacht ein nahes Hotel. An der Rezeption informierte mich Ahnungslosen ein sichtlich amüsierter freundlicher Mann, dass ich mich in ein Stundenhotel verirrt hatte. Doch er war geschäftstüchtig genug mir zu günstigem Preise ein Zimmer im ruhigerem Trakt zu überlassen. Offensichtlich zog sich die trostlose Wirtschaftslage Griechenlands durch alle Geschäftsbereiche. Die finanzielle Situation verwundert einem nicht weiter, spaziert man durch den riesigen Olympiapark von 2004. Ein Bollwerk, erbaut um es wenige Wochen zu nützen, um wenige Wochen in der Weltöffentlichkeit zu stehen, danach dem Verfall preisgegeben. Schockierend das Zeugnis wie mit Steuergeldern diese ohnehin Finanzmaroden Staates verschwenderisch umgegangen wurde.

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Die folgenden Tage allerdings sollte ein kleiner Teil dieser Stätte wieder aufleben. Läufer aus 26 Nationen hatten sich zusammengefunden um in 7 Bewerben, vom 6-Stunden-Lauf bis zur 1000 Kilometer Distanz ihr bestes zu geben. Freundlich empfing mich Rennleiter Costas und nahm meine ärztliche Tauglichkeitsbestätigung entgegen. Anschließend führte er mich in einen der unzähligen Räume, des großen an die Laufstrecke grenzenden Gebäudes. Styroporunterlagen waren vorbereitet um den Läufern ein einigermaßen komfortables Liegen am Boden zu ermöglichen. Mehr war nicht nötig, schließlich waren wir ja nicht zum Liegen gekommen. Trotzdem richtete ich mein Quartier so heimelig als möglich ein. Nahrungsergänzungsmittel, Materialien zur Wundversorgung und Wäsche mit System sortiert um alles auch noch im Ultramüdigkeits-Delierium zu finden. Direkt an der Laufstrecke errichtete ich mein Bivouak, als persönliche Lab und Raststelle. Abends vor dem Starttag des Rennens, besuchte mich Martina Hausmann. Bei einem guten Glas griechischen Rotwein erfuhr ich einiges aus dem Leben dieser Ausnahme-Athletin. Kurz gesellte sich noch Wolfgang Schwerk dazu. Kurz deshalb, weil wir zeitig schlafen gehen wollten. Was einen Teil unserer rücksichtslosen Mitbewohner leider überhaupt nicht kümmerte. Zur einen Seite benachbarten meine Ruhestätte ein Quartett Griechen. Der Schallpegel ihrer Kommunikation ließ eine anbahnende Schlägerei vermuten. Doch ihr stimmungsvolles Gelächter zwischendurch zeugte entwarnend von friedlicher aber eben lautstarker südländischer Unterhaltung. Noch dazu mit unglaublicher Ausdauer. Den Gang beschallten eine Schar Chinesen. Der weibliche Teil der Taipehs klimperte unaufhörlich mit Kochgeschirr, während die Männer endlose Geschichten oder was auch immer zu erzählen hatten. So trug es sich zu bis spät in die Nacht. Schlafen gelang mir nur sehr lückenhaft. Nach Mitternacht wälzte ich mich genervt aus dem Schlafsack und flüchtete aus dem Gebäude. Spazierte durch die kühle Nacht, schlürfte eine Dose Bier, genoß die Stille. Kaum ausgetrunken, warf mich das Beste aller Schlafmittel, wie erhofft sanft in einen tiefen traumlosen Schlaf, in meinem Zimmer, wo inzwischen Ruhe eingekehrt war. 

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1.Tag - Sonntag

Nach der Wettkampfbesprechung und der Startnummernausgabe stand ich endlich mit etwa 30 weiteren Teilnehmern am Start.

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Mit den beiden längsten Bewerben, dem 1000 Kilometer und dem 7 Tages-Lauf sollte das Ultramarathon-Festival pünktlich um 13:00 Uhr eröffnet werden. So war es auch, jeder Läufer hatte von Anbeginn sein eigenes Tempo und so verteilten sich die Athleten schon nach wenigen Runden über das gesamte Feld. Die Strecke, ein Rundkurs von exakt einem Kilometer Länge war an 3 Stellen mit Time-Carpets für die elektronische Zeitnehmung bestückt. Ansonsten war, abgesehen vom Lärm der sechsspurigen Autobahn, welche paralell zur Längsseite der Laufstrecke verlief, wenig Abwechslung zu erwarten.

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Mit Ausnahme des malerischen Bergpanoramas nördlich unseres Aktionsradius bot sich eine wenig sehenswerte Kulisse. Von dort blies ablandiger Wind die Abgase der Autobahn aufs Meer hinaus und wir waren zumindest fürs erste mit frischer Luft versorgt. Na ja, so frisch wie die Luft eben in einer der Smog-reichsten Städte Europas als frisch bezeichnet werden kann. Mir ging es blendend, in euphorischem Übermut mußte ich ständig mein Tempo drosseln. Nur die Tatsache, dass ich offensichtlich der einzige Teilnehmer ohne persönlichen Betreuer zu sein schien, beunruhigte mich etwas. Hatte mir ja Martina Hausmann am Vorabend erzählt, dass es aus ihrer eigenen Erfahrung nach nicht möglich sei ohne aufmerksamen Betreuer sein gesamtes Leistungspotential bei einem Mehrtageslauf auch nur annähernd in das Wettkampfergebnis zu bringen. Zu viel Zeit und Energie gehen für Nahrung vorbereiten, Kleidertausch und Wundversorgung verloren. Schöne Aussichten, ging es mir durch den Kopf. Aber es gelang mir bald die negativen Gedanke zu verdrängen. 

Zurück zum Tempo. 50 Kilometer lagen hinter mir und ich war in Führung. Beruhigend? Ganz und gar nicht, ich war noch immer zu schnell unterwegs, ließ es aber laufen.

21:00 Uhr, erster Richtungswechsel. Ab diesem Zeitpunkt alle 12 Stunden ein fixer Bestandteil unseres Tagesablaufes, eine willkommene Abwechslung. Und das ging so: Ein Wettkampfrichter, am Start-Zielmeßpunkt postiert, signalisierte jedem einzelnen Läufer, dass er zu wenden hatte. Und zwar ab punkt 21:00 Uhr. Die davor begonnenen Runden durften beendet werden, damit jedem die tatsächlich gelaufene Strecke auch gewertet werden konnte. So kam es nach der Wende zum Gegenverkehr, was die meisten nützten den entgegenkommenden mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht abzuklatschen. Keine große Sache, aber irgendwie doch, denn es festigte das Zusammengehörigkeitsgefühl und brachte einander näher. Mittlerweile hatte ich mein Tempo in den Griff bekommen, war auf Platz 3 zurückgefallen. 

Wie gewohnt trug ich meinen Getränkegurt, um zeitmäßig unabhängig von der Labstelle alle 10 Minuten eine kleine Menge an Flüssigkeit zu mir zu nehmen. Dadurch war die Versorgung optimal gewährleistet und die Urinproduktion nicht übermäßig angeregt. Ein durchaus bewährtes System, wäre mir nicht ein Fehler bei der Getränkeauswahl unterlaufen. Denn seit mehreren Stunden befüllte ich meine Getränkeflasche, an der offiziellen Labstelle mit einem mir unbekannten isotonischen Getränk. Der Griff zum Wasser erfolgte so gut wie gar nicht. Was Übersäuerung und Extrembelastung der Nieren zur Folge hatte. Beim entleeren der Blase traf mich der Anblick der dunklen Brühe, die meinen Körper verließ wie ein Blitzschlag. Blut, ich habe Blut im Urin, war mein erster Gedanke. Was nun? 

Aus Angst aus dem Rennen genommen zu werden wagte ich es nicht den Kontrollarzt zu befragen und setzte den Lauf fort. Schmerzen waren ja nicht zu spüren, aber richtig wohl war mir trotzdem nicht dabei. Wolfgang Schwerk, dem ich mich anvertraute, riet mir ausgiebig zu trinken. Das half, zumindest den Nieren. An der Labstelle leerte ich folglich nur noch Wasser aus Pet-Flaschen in meinen Transportbehälter. Bald klärte sich meine flüssige Ausscheidung, alles schien in Ordnung zu sein. Nur eines erregte mein Mißtrauen. Die Pet-Flaschen wurden mit zunehmender Stunde abgegriffener, bekamen Druckstellen und ich Zweifel. Zweifel die sich leider als berechtigt erwiesen, nachdem ich Zeuge wurde, wie man diese Flaschen aus einem Gartenschlauch mit Leitungswasser befüllte. Und das obwohl in den Waschräumen, auf Schildern vor dem Genuß des Leitungswassers gewarnt wurde. Lange hat es nicht gedauert bis sich ein unangenehmes Rumoren in meinem Verdauungstrakt bemerkbar machte. Der Weg zur Toilette wurde ein Wettlauf gegen die Zeit, den ich zum Glück gewann. Verloren hatte ich jedoch eine Menge an Kraft. Deshalb kam es zum Entschluß etwas auszuruhen, mit ein wenig Schlaf zu regenerieren.

Mit weichen Knien sank ich auf mein Ruhelager. Kaum liegend zog ein heftiger Schmerz entlang der Wirbelsäule, verbreitete sich über den Rücken bis hin zum Becken. Alle Versuche eine angenehme Position zu finden blieben erfolglos. Später hegte ich den Verdacht, dass dies vom kühlen Luftzug an der thermisch sehr wechselhaften Laufstrecke herrührte. Was für ein durchwachsener Tag. Fluchend machte ich mich wieder auf den Weg, maschierte einige Runden bis es wieder lief. Und das Leitungswasser, das trank ich weiter, was blieb mir sonst auch übrig. Als der Morgen graute und mir Gott sei Dank nicht mehr, spürte ich Hunger. Froh darüber, den Espit-Kocher entzündet, kochte bald Wasser, welches in nur 10 Minuten mein von zu Hause mitgebrachtes Travel-Lunch garte.

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Das gab neue Kraft, und allen Widrigkeiten zum Trotz schaffte ich es irgendwie am ersten Tag 128 Kilometer zurückzulegen.

 

2. Tag

Gnadenlos brannte die Sonne mittags vom wolkenlosen Himmel." In der Hitze gehts dir gut, du Wüstensohn", rief mir Martina zu. Sie hatte recht, mein Schutzengel leistete ganze Arbeit, ich erholte mich im wahrsten Sinne des Wortes laufend. Laufen ist der Schlüssel zur Tür meiner Seele. Manchmal mit einem besseren Regenerationswert wie schlafen. So erging es mir einmal mehr an diesem Tag. Gut gelaunt drehte ich eine Runde um die andere, amüsierte mich im Stillen über die Lampenschirmartige Kopfbedeckung einer Südafrikanerin, war in diesen Stunden einfach wieder gut drauf. Warum in der Wertung des 7 Tages-Laufes nur noch 9 von 20 gemeldeten Teilnehmern aufschienen blieb mir ein Rätsel. Ansonsten verlief der Nachmittag ohne nennenswerten Zwischenfall, mentale Grenzsituationen schienen fern. Dass ich mit letzteren in dieser Woche noch konfrontiert werden würde, war allerdings unausweichlich, aber nicht beunruhigend. Handelt es sich ja dabei um eine meiner Stärken, welche höchstwahrscheinlich aufgrund meines steinigen Lebensweges und im weiteren natürlich beim Ultralangstreckenlauf erwachsen konnte. Manchen Herausforderer mit besseren körperlichen Voraussetzungen habe ich dadurch nach langem Kampf hinter mir gelassen. So sinnierte ich vor mich hin, während sich die Sonne gemächlich hinter dem Horizont verkroch. Der Stimmung halber beging ich einen kleinen Stilbruch und bestückte mich mit meinem MP-3 Player. Bob Marley spülte Erinnerungen an meine gedankliche Oberfläche, AC/DC hämmerten mir den Laufrythmus. 

Nach dem Richtungswechsel um 21:00 Uhr, legte sich Müdigkeit wie ein Schaumkissen über meine Wahrnehmung. Gedankenlos wischte ich einen Nasentropfen in den Ärmel, kurz darauf noch einen und noch einen, dann erst bemerkte ich das es Blut war. Bald glich mein Shirt der Arbeitsbekleidung eines Fleischers. Schnell ins Zimmer, nur nicht die Aufmerksamkeit der Rennleitung erregen, kurz darauf hingelegt und die Lichter waren aus. Nach 32 Stunden hatte ich endlich Schlaf gefunden. Herrlich. Gegen Mitternacht ging es erfrischt weiter, an der Seite von Martina Hausmann. Mich fröstelte bis in die Knochen. Nicht lange, bald hatte der Körper Betriebstemperatur und mein Gemüt erwärmte Martinas Erzählung ihres Ultralaufwerdeganges. Knieschmerzen hatten sie vor etlichen Jahren zum Arzt getrieben. Der prognostizierte ihr Arthrose und Sportuntauglichkeit. Laufen solle sie überhaupt vermeiden. Aber wie es sich eben verhält, wenn man aus unnachgiebigen Holz geschnitzt ist, war genau dies der Start ihrer Ultralauf-Karriere. Ein bewegungsarmes Dasein wollte die quirlige Würzburgerin jedenfalls nicht fristen. Ihr Handicap ignorierend, entwickelte sich die Leidenschaft immer längere Strecken zu bewältigen. Mehrtagesläufe wurden zur Routine. Martina lief sich zur deutschen Rekordlerin im 6-Tages-Lauf, finishte den Friedenslauf von Hiroshima nach Nagasaki ebenso wie die 1300 Meilen von New York, als gerade die Türme des World Trade Centers einstürzten. Im Laufe der Jahre erlief sie sich nationale und Weltrekorde. Nun war sie neben mir, mit ihrem Ultraschlappschritt, wie sie die Art ihrer Fortbewegung selbst nannte. Schnell war sie ja wirklich nicht unterwegs, aber unermüdlich. Tagelang konnte sie ohne zu schlafen weiterziehen, davon wurde ich in dieser Woche noch beeindruckter Zeuge. 

Langsam ging die Nacht zu Ende. "Die dämmernde Frühe erwachte mit Rosenfinger" (ich wüßte nicht wo die Worte Homer's an diesem Morgen besser angebracht gewesen wären). Vom kargen Verpflegungstisch griff ich mir regelmäßig eine Hand voll Nüsse, Chips, manchmal ein Stück Schokolade, oder wenn vorhanden Obst. Viel mehr war da nicht zu holen.

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Trockener Zwieback mit Honig wurde zwar permanent angeboten, doch damit aß ich mir bald die Mundhöhle wund. Heilfroh ausreichend über eigene Nahrungsmittel zu verfügen, mixte ich meine Kohlenhydratgetränke, aß Leberpastete oder Ölsardinen. Durch intensive Planung und monatelange Vorbereitung hat es mir an nichts gefehlt. Außer dem Beistand eines persönlichen Betreuers, aber auch damit kam ich klar. Nach 48 Stunden lagen 242 Kilometer und sämtliche Anfangsprobleme hinter mir. Die wirklich harten Stunden standen aber noch bevor.

 

3. Tag  "Die Griechen"

 

Im Zwischenklassement schien mein Name an 2. Stelle auf. Am Bildschirm, im Bereich der Labstelle, sowie im Internet. Man war bestens informiert, vor Ort und in der fernen Heimat. Wo meine Familie, wie auch Freunde und Bekannte eifrig mitfieberten. Wie ich später erfuhr. Der Grieche, Anagnostis war mir auf den Fersen. Ihm folgten eine Holländerin, ein Chinese und ein weiterer Grieche namens Nikos. Verstohlen beäugten mich die Helenen, die Jagd nach mir war eröffnet. Der bärtige Anagnostis, von großer athletischer Gestalt, sah zäh aus und reich an Erfahrung. Nikos der jüngere, gebärdete sich impulsiv, die Kampfeslust war ihm anzusehen. Er kontrollierte mein Tempo. Keine Einbildung meinerseits, keine Anwandlung beginnender Schizophrenie, es war offensichtlich. Folge dessen nahm ich ebenfalls jeden Augenschein ein und passte mein Tempo dem meines schnellsten Verfolgers an. Etwa in der Mitte des länglichen Rundkurses begegnete ich diesem regelmäßig. Immer wieder fanden sich unsere Blicke, obwohl jeder bemüht war dem anderen nicht zuviel Interesse zu bekunden. Verspätete sich jener in einer Runde um einige Meter, wurde das Defizit in der folgenden eifrig wettgemacht. Aber niemand solle glauben, dass ich vielleicht besonnener gewesen wäre, ich machte es nämlich daraufhin genauso. Auch wenn die Herausforderung unausgesprochen war mußte ich mich ihr stellen. So verstrich Stunde um Stunde, erst der Nachmittag, dann der Abend. Als die Sonne gesunken war und Dunkelheit Athen umhüllte, traf ich auf dem Weg zur Toilette, Nikos der im Eingangsbereich mit schmerzverzerrter Mine auf dem Boden am Rücken lag. Nikos sprach, im Gegensatz zu seinem um eine Generation älteren Landsmann Anagnostis, Englisch. Ohne zu zögern fragte ich nach seinem Befinden und ob ich irgendwie behilflich sein könne. Ehrlich gesagt ging es mir dabei vorrangig darum wettkampfsbedingte Spannungen abzubauen, um die Situation nicht bis zur Feindschaft eskalieren zu lassen. Er aber gab sich wortkarg, erklärte mir nur kurz dass seine Füße schmerzten und wendete sich ab. Na dann eben nicht, dachte ich im Weggehen. Nach verrichtetem Geschäft ersann ich die List, aus dem Gebäude durch das zweite Portal ungesehen zur Laufstrecke zurückzukehren. Von dort war es möglich Nikos unbemerkt zu beobachten. Sein Blick war in die Richtung gerichtet, in der ich verschwunden war. Wartete er auf mich? Machte er seine Ruhepause von meiner Rückkehr abhängig? Schien so, denn als ich nach einer locker getrabten Runde die Stelle passierte, war er weg. Nikos pausierte. Im Geiste wünschte ich ihm einen gesegneten, langen Schlaf. Dieser fromme Wunsch fand stille Erfüllung. Folglich war der Bursche stundenlang nicht mehr zu sehen und mein Vorsprung wuchs. Tja, wer da schlief, der verlor.

Ria, die fliegende Holländerin leistete sich des öfteren lange Schlafpausen. War sie jedoch auf der Strecke, machte sie Tempo als wäre sie zum 6 Stunden-Lauf angetreten. Das machte aber wenig Sinn wie ihr wachsender Rückstand bewies. Chen aus Taipeh praktizierte gegenteiliges. Wie im Zeitraffer schlich er dahin, schlief weniger als manch schnellere und kam so zum besseren Ergebnis als jene. Meine Aufmerksamkeit galt vorwiegend Anagnostis. Am frühen Abend erweckte der Grieche den Anschein an den Grenzbereich seiner Leidensfähigkeit gestoßen zu sein. Später, um Mitternacht joggte er wieder dahin, als wäre nichts gewesen. Zu dieser Zeit hatte ich Mühe die Augen offen zu halten.

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Meine Fußsohlen hitzten, als hätte sich mein Schuhwerk zu Herdplatten verwandelt. Eingezwängt wie in Schraubstöcken steckten die geschwollenen Füße in den ursprünglich 2 Nummern zu großen Schuhen. Barfußlaufen ging gar nicht. Zu wund und strapaziert waren meine Laufwerkzeuge. Abgesehen davon schien mir dafür das Verletzungsrisiko auf dem rauhen, löchrigen Asphalt ohnehin zu groß. Also griff ich mir ein scharfes Messer und schnitt in den vorderen Bereich meiner Nike's längliche Öffnungen. Damit war das Platzproblem gelöst. Zufrieden entschlummerte mein Geist der Realität. Zwei Stunden später wälzte ich mich albtraumgeplagt und schweißgebadet aus dem Schlafsack. Schlaftrunken wandelte ich zum Zeitnehmungsmonitor. Darauf ersah man nicht nur die aktuelle Rundenzeit jedes einzelnen Läufers, sondern auch die Uhrzeit wann die zuletzt gelaufene Runde beendet wurde. Daraus konnte man natürlich Rückschlüsse ziehen. 

Anagnostis, der alte Fuchs beendete zum Beispiel nur noch die begonnene Runde, nachdem ich zuvor die Laufstrecke verlassen hatte. Dann begab auch er sich zur Ruhe und dabei befand er sich noch immer. Wie vom Glück geküßt lief ich los. Der Morgendämmerung entgegen geschah es mir leicht. Nichts außergewöhnliches für einen geübten Frühaufsteher mit der Neigung den jungen Tag zu verherrlichen. Keine Beschwerden, mühelos bewegten sich meine Beine automatisch. Schritt um Schritt in den jungen Tag hinein. Anagnostis geschah es nach seiner Rückkehr weniger leicht. Nur im flotten Wandertempo bewegte er sich voran. 

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 Mein Vorsprung war über die klassische Marathon-Distanz angewachsen und vergrößerte sich im verlaufe  des Vormittags nach einigen Überrundungen weiter. Nikos, noch viel weiter zurück, mied meine Gesellschaft wie der Teufel das Weihwasser. Nein, so hatten sich die Griechen das Ganze nicht vorgestellt.

 

4. Tag      Sturm

Warmes Wasser floß aus den Duschen täglich nur für eine Stunde am Nachmittag. Griechenland mußte eben sparen. Für meine Bedürfnisse ein gänzlich unangebrachter Zeitpunkt. Daher beschränkte sich die Körperpflege auf eine Reinigungsprozedur mit Feuchttücher. Das führte erwartungsgemäß zu einem Hygienedefizit und folge dessen zu einem schmerzhaften Furunkel zwischen den Gesäßbacken. Regelmäßig aufgetragene Wundsalbe linderte den Schmerz. Doch ganz vergehen sollte er bis zum Ende des Rennens und darüber hinaus nicht mehr. Ja, ja das Sparprogramm. "Gespart muß jetzt überall werden", dachte ich bei der Jause vor mich hin. Den Blick in eine Dose frisch geöffneter, portugisischer Sardinen gerichtet. Viel Platz haben die Kleinen heutzutage in so einer Dose. Das war nicht immer so. Vor nicht allzulanger Zeit verwendete man in unserer Gegend gerne das umgangssprachliche Sätzlein: "Da waren wir geschlichtet wie Sardinen", wenn es irgendwo eng herging. Nun, das hatte absolut keine Gültigkeit mehr. Gut hätten es die Fischlein jetzt, würden sie davon noch etwas mitbekommen. Sie würden das Sparprogramm lieben, im Gegensatz zu den Griechen.

Der Himmel zeigte sich am 4. Tag bedeckt. Dünne Wolkenfelder schwächten die Wirkung der Sonne. Angenehm strich mir eine zarte Brise über die Haut.

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Für Michael, dem Südafrikaner war das Rennen zu Ende. Im dicken Gipsverband humpelte er mir auf Krücken entgegen. Die Verletzung, welche er sich am Vortag zugezogen hatte war schlimmer als vermutet. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen unverzüglich vom Spital zurückzukehren um uns anzufeuern. Eine schöne Geste, ich hätte ihm aber besseres gegönnt.

Die Wolkendecke wurde dichter, aus der zarten Brise entwickelte sich kühler Wind. Diffuses Zwielicht ließ das Geschehen surreal erscheinen. Die ideale Stimmung für eine Reise in die Gedankenwelt. Sie führte meinen Geist nach Hause zu Bernd, einem Laufkollegen. Zu unserem letzten Gespräch vor meiner Abreise nach Athen. Er könne sich das Ganze nicht vorstellen, 7 Tage zu laufen, sagte er da zu mir. Bernd der ausgezeichnete Tennislehrer und Turnierspieler mit der Ambition zu laufen. Einen Marathon in ganz passabler Zeit hatte er schon auf seinem Konto, darüber hinaus wolle er sich aber nicht wagen. "Das muß man sich einmal durch den Kopf gehen lassen", gab er nachdenklich von sich. "Ich sitze Sonntags vor dem Fernsehgerät während du läufst. Ich gehe Montags zur Arbeit, während du noch immer läufst. Es vergeht eine lange Arbeitswoche und du läufst noch immer. Sonntags sitze ich wieder vor dem Fernseher und du ........unvorstellbar"...... und ich lief noch immer. Dunkle Wolken löschten das Zwielicht. Sturmwarnung. Baumwipfel neigten sich bedrohlich mit dem Wind, Zeltplanen flatterten. Blätter und Staub wirbelte durch die Gegend. Es wurde ungemütlich. Die Augen zu Sehschlitzen gekniffen kämpften die auf der Strecke verbliebenen gebückt gegen den Sturm. Genervt darüber, mein Tempo nicht beibehalten zu können, schrie ich den Zorn in die Athmosphäre. Bis ich mich mit den Umständen abgefunden hatte und die innerer Ruhe wieder einkehrte. In erlösender Monotonie, ohne viel zu denken ging es in die Nacht. Der Sturm fegte unvermindert weiter.  

Überraschend streckte mir Alan, Martina Hausmanns persönlicher Betreuer einen Trinkbecher entgegen. Alan ein schottisches Original, stellte sich immer wieder gerne in den Dienst der Allgemeinheit, was Martina nicht gerne sah. Der Inhalt des Trinkbecheres, eine dicke kräftige Suppe, blieb der kulinarische Höhepunkt der Woche. Denn es gab nur eines was die Eintönigkeit der Laufstrecke überbot und das war die der Hauptmahlzeit, der alltäglichen geschmacksneutralen Pasta. Alan verstrahlte positive Energie. Oft kamen aufmunternde Worte über seine Lippen, gelegentlich ein kleiner Scherz. Gegen 3 Uhr morgens, als ich vor Müdigkeit kaum noch in der Lage war die Uhr unfallfrei abzulesen, befragte mich der Gute, wohin ich denn des Weges wäre. Ich darauf: " I go to bed". Er schelmisch: "Oh why? Is inside a nice Lady?". Grinsend verabschiedeten wir uns mit freundlichem Schulterklopfen. Bald darauf schlummerte ich mit einem Lächeln im Gesicht dahin. Aber ohne Lady, versteht sich. Zwei Stunden traumloser Tiefschlaf gab mir neue Kraft. Inzwischen hatte sich die Wetterlage verbessert. Windstille. Der Vormittag verlief ereignislos, ich kam gut voran. Mein Vorsprung zu den Griechen wuchs. Mittags lagen 450 Kilometer hinter mir.  

 

 5.Tag     Krise

 

Ein Stich im rechten Knie weckte Erinnerung an ein längst bewältigt geglaubtes Trauma. Natürlich das von der Knieverletzung, welche mich einige Monate zuvor aus dem "Race across Burgenland" geworfen hatte. Glücklicherweise ist es eines meiner größten Talente aus Schäden zu lernen. So selbstverständlich ist das nicht. Ich kenne einige Menschen, denen mehr als einmal die gleichen Rückschläge wiederfahren sind. Nicht weil es das Schicksal so wollte, auch nicht aus Mangel an Intelligenz, sondern einfach aus Unüberlegtheit oder unzureichender Vorbereitung. Für mich ist so etwas nur schwer nachvollziehbar. Nach dem "Race across Burgenland" analysierte ich das Problem wie schon beschrieben. Kinesiotaping wurde zum wichtigen Bestandteil des Heilungsprozesses. Wodurch ich erlernte die Tapes nutzbringend zu kleben. Man weiß, dass der Punkt einer Verletzung am Bewegungsapparat zeitlebens eine Schwachstelle bleibt, auch nach vollständiger Heilung. Daher habe ich vor der Abreise nach Athen diesbezüglich die nötigen Vorbereitungen getroffen. Tapes gekauf und das Beinhaar wegepiliert, damit die Tapes auch hafteten. Nun war ich froh darüber gerüstet zu sein. Vielleicht spielte auch der Placebo-Effekt eine Rolle. Es kümmerte mich allerdings wenig ob die Tapes dem Knie oder dem Kopf halfen. Hauptsache sie halfen, und so war es.

In meinem Kopf breitete sich an diesem Tag ein anderes, für mich untypisches Problem aus. Motivationsmangel. Da half kein Tape, vermutlich nicht einmal wenn mir jemand den ganzen Kopf damit eingebunden hätte. Ich sackte in eine ungewöhnlich schlimme Krise. Müde, ausgelaugt und lustlos schlich ich dahin. Warum? Immer wieder stellte sich die Frage nach dem Sinn dieser Qual. Warum nicht nichts tun? Na ja, ich kannte eine Menge Nichtstuer, allesamt unerfüllt. Ok, warum nicht wenigstens kürzer treten? Bringt nichts, weil ich sowieso irgendwann wieder im Extrem lande. Das ist mein Naturell, so bin ich eben, so war ich schon immer. Früher beim Feiern, Arbeiten, Motorradfahren und Tauchen, jetzt beim Laufen. Halben Sachen kann ich nur wenig abgewinnen, nur das darüber hinaus gießt mir die Essenz ins Leben. Also Augen zu und durch. Und ich kam durch, ich weiß zwar nicht mehr genau wie, aber ich kam durch die Krise. In der Erinnerung verschwimmen oder schwinden negative Vorkomnisse eher als positive. 

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In bester Erinnerung ist mir beispielsweise die lange Unterhaltung mit Wolfgang Schwerk nach diesen schweren Stunden geblieben. Von unserer Lebensgeschichte über die Atom-Katastrophe in Fukujima bis hin zur Ernährung reichte die Vielfalt unseres Gesprächs. Das Thema Ernährung beschäftigte uns am längsten. Ein trockenes Kapitel mag man vermuten. Weit gefehlt, kurzweiliger als Wolfgangs Geschichte, wie er durch seine Kaninchenzucht zum Vegetarier geworden ist, war es mir selten an diesen Tagen. Mit der Kaninchezucht verhielt es sich nämlich so, dass die Schönen, die Prachtexemplare, zu Ausstellungen gebracht wurden. Die weniger edlen Geschöpfe landeteten im Kochtopf. Eines Tages, als es wieder an der Zeit war, eines der weniger schönen seiner Bestimmung zuzuführen, geschah es, dass dieses ihn mit großen Augen in die seinen Blickte. Da regte sich etwas im Gemüt des Schlächters. Was ihn dazu veranlaßte, sich zum Kühlschrank zu begeben um bei einer Flasche Bier die Situation zu überdenken. Im Anschluß daran fühlte er sich entschlossen genug sein Vorhaben zu erledigen. Doch das kleine Kaninchen blickte ihm abermals aus den unschuldigsten Augen, mit welchen ein Lebewesen gesegnet sein kann entgegen. Ratlos suchte Wolfgang nach einer Lösung um mit seinem Gewissen ins reine zu kommen. Ein weiteres Schaumgetränk sollte die Klärung des Geistes hilfreich unterstützen. Aber der kleine Hoppel verfügte über die Ausdauer eines Ultralang-Treuherzigblickers. Wieder suchte Wolfgang Hilfe für mehr Entschlossenheit im Kühlschrank. Bis sich die gewünschte Klärung des Geistes eingestellt hatte, und er entschied, nichts mehr zu essen was jemals aus derartigen Augen zu blicken vermocht haben konnte. Nach diesem prägnanten Erlebnis, zählte der Bekehrte zu den Vegetariern und das bis zum heutigen Tag.

Unbeeinflußt vom Geschilderten zelebrierte ich meinen ganz persönlichen Freßtag. Es gab einiges nachzuholen, Durchfall und anschließende Apetittlosigkeit hatten zu einer Kalorienunterversorgung geführt. Ich, der im Alltag auf gesundheitsbewußte Ernährung Wert legte, stopfte alle verfügbaren  Lebensmittel wahllos und in großen Mengen in mich hinein. Wie ein ausgehungerter, nimmersatter streunender Hund, nur etwas langsamer.

 

6. Tag  "Urlaub mit gelegentlichen Schmerzen"

 

Der 5. Tag hatte mit der äußerst zufriedenstellenden Bilanz geendet, mein selbstgestecktes Gesamtziel erreicht zu haben. Mit 547 zurückgelegten Kilometern lag die ursprünglich für 7 Tage geplante Distanz bereits nach 5 Tagen hinter mir. Freude. Angesichts dessen stellte sich auch der Eifer wieder ein, nun wollte ich mehr. Jeglicher Schmerz war verebbt, wie von Geisterhand verblasen. Ich steuerte durch ein mentales Hoch, und das nach all den Strapazen. Vermutlich hatte auch die Sonne ihren Beitrag zu meinem wiedererlangten Wohlbefinden geleistet. Ungehindert strahlte unser Zentralgestirn vom blassblauen Himmel, so wie es dem Gemüt eben gut tut, am Läuferkörper jedoch zehrt. Von letzterem spürte ich zu diesem Zeitpunkt wenig, deshalb ließ ich den Leichtsinn mit mir durchgehen und lief in der Euphorie ein viel zu hohes Tempo. Beeinflußt, ja, mitgerissen hatten mich natürlich auch die noch relativ frischen 72- und 48- Stunden-Läufer. Munter heftete ich mich an ihre Fersen, als hätte ich den Bewerb gewechselt. Die Luft flimmerte über dem aufgeheizten Asphalt. Die Berge im Hintergrund zeigten sich in bestem Licht, wie in einem Urlaubs-Reiseprospekt. Das war es ja auch für mich - Urlaub, zwar mit gelegentlichen Schmerzen, aber immer in Bewegung. Urlaub nach meinem Geschmack.

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Langsam schwand meine Kraft. Etwas benommen reduzierte ich das Lauftempo. Der Kreislauf rechtfertigte seinen Namen. Schwarze Flecken huschten über den Boden. Meine Sinne verloren die Fähigkeit einfließende Eindrücke objektiv zu verarbeiten. Ich war heißgelaufen, wie ein Motor bei der Dakar-Rallye. Realität und Phantasie paarten sich. Kleine schwarze Schattentiere wuselten überall am Boden herum. Scheuklappen beschränkten mein Sichtfeld. Der Schritt wurde träger, unkoordinierter. Vom Willen getrieben setzte ich die psychische Odyssee im Gehen fort. Immer weiter, bis ich wankenden Schrittes der Vernunft den Sieg überließ, und den Flirt mit dem Kollaps beendete. Auf dem Weg zur Schlafecke langte die Beherrschung gerade noch aus meinen desolaten Zustand zu verbergen. Kraftlos sank ich auf den Schlafsack, fand aber trotz der Erschöpfung keinen Schlaf. Extrem übermüdet ist es oft nicht einfach gleich Ruhe zu finden. Ob Seiten, Rücken oder Bauchlage, egal in welcher Position, sämtliche Muskeln, Gelenke und Knochen schmerzten. Von Schweißausbrüchen durchnäßt wälzte ich mich hin und her. Dann kritzelte ich in Stichworten das Tagesgeschehen in den Notizblock und versank dabei endlich für 2 Stunden in einen tiefen Schlaf. Unmittelbar nach dem Erwachen war mir kalt, als hätte ich am K2 übernachtet und fühlte mich gerädert wie nach einer 3 tägigen Sauftour. Doch die Freude über das bereits Erreichte überstrahlte alles.

 

Ein Paar mittleren Alters hatte sich inzwischen neben mir einquartiert. Ost-Europäer, wie ich vermutete. Später erfuhr ich, daß die Beiden aus der Ukraine stammten. Ihr Verhalten mir gegenüber war rücksichtsvoll, die Gesichtszüge freundlich. Beide sprachen weder Englisch noch Deutsch. Auch aufgrund ihres Äußeren war zu ersehen, dass sich die Zwei von der Globalisierung noch nicht überrollen hatten lassen. Das gefiel mir. Sie, in traditionellem Kopftuch, mit arbeitssamen Händen und mütterlicher Aura, er mit bravem Kurzhaarschnitt, zuvorkommend und hilfsbereit. Schnell hatten sich die Beiden häuslich eingerichtet. Ein überlanger Tisch wurde mit Lebensmittel derart überladen, dass die Vermutung nahe lag der Rest einer Großfamilie würde nachfolgen. Wie es bei einfachen ländlichen Leute üblich ist, wurde ich mit natürlicher Selbstverständlichkeit zu Tisch gewunken, um an ihrem Mahl teilzuhaben. Ich war glücklich in Gesellschaft solcher Menschen. Wir hatten keine gemeinsame Sprache, verständigten uns mit Händen, Füßen und Mimik, verstanden uns aber doch. Später, als ich längst schon wieder Kilometer sammelte, startete Mika -  der Ukrainer beim 24 Stunden-Bewerb. Seine Frau, ihren Namen erfuhr ich leider nicht, passte am Streckenrand um ihm jeden Wunsch vom Gesicht abzulesen. Die Aufgabenverteilung der Beiden schien optimal, denn es sah so aus, dass sowohl er als Läufer, wie auch sie als mütterliche Betreuerin ihre Erfüllung gefunden hatten. Erfüllung empfand auch ich am Ende des 6. Tages nach 630 zurückgelegten Kilometern.

 

7.Tag

 

"Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun, am siebten Tag aber sollst du ruhn." So steht es - sinngemäß - im Alten Testament. Dieses Zitat hatte den Organisator des Ultramarathon Festivals (Dr. Costas Baxevanis) dazu bewogen, nach einem Zwist mit der Kirche, den Athener 6-Tages-Lauf auf einen 7-Tages-Lauf zu erweitern. Allerdings fand er für diesen fragwürdigen Protest allseits wenig Verständnis. Selbst einigen Athleten war bei den Veranstaltungen vergangener Jahre der 7. Tag gelinde gesagt "wurscht". In den internationalen Bestenlisten wertet man ohnehin nur Ergebnisse bis zum 6. Tag. Da sah Costas einen Handlungsbedarf gegeben und erweiterte das Reglement um einen Punkt. Und zwar um den, der das Absolvieren von mindestes 42 Kilometer für den 7. Tag vorschrieb. Obwohl man es mit der Einhaltung dieser Vorschrift nicht so genau nahm, wie man mir sagte, setzte ich mir für den letzten Tag die Distanz des klassischen Marathons zum Ziel. Nicht mehr und nicht weniger. Ich genoß diesen Tag, trabte locker dahin, ließ die Athmospäre bewußt auf mich einwirken. Seelenmassage.

 

"Ausdauer wird früher oder später belohnt. Meist später."  (Wilhelm Busch)

 

Irgendwann, es war bereits Nacht, es war bereits "später". Den Marathon hatte ich locker hinter mich gebracht, das letzte Ziel erreicht, der Schonungslosigkeit der Zeit getrotzt. Stunden bis zum Schlußpfiff blieben noch übrig. Was sollte ich tun? 672 Kilometer stand auf dem Bildschirm, in der Start-Ziel-Zone, hinter meinem Namen. Der Sieg in der 7-Tages-Lauf-Männer-Wertung war mir gewiß. Zeit totschlagen ist aber keine Tätigkeit mit der ich mich richtig anfreunden kann, dazu fehlt mir der nötige Hammer. Und um zu schlafen sollte es in Zukunft noch Nächte genug geben. Letztlich fand sich aber doch noch ein Ziel, ein logisches, für den Zahlenjongleur mit gelegentlichen neurotischen Ordnungsanwandlungen. Ergebniskosmetik - 700 Kilometer. Als symbolisches Dankeschön an meine verständnisvollen Mädels zu Hause (Frau und Tochter), drehte ich ihnen zu Ehren noch eine letzte Runde. Dann 90 Minuten vor dem offiziellen Finish des 7-Tages-Laufes beendete ich entgültig nach 701 Runden müde aber zufrieden das Rennen.

 

Christian Solovitz 2011

 

 

 

 

 

 

 

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